Blumen vor einem Bild des erschossenen russischen Botschafters Andrej Karlow.

Foto: AFP/ Natalia KOLESNIKOVA

Er nahm ein Hotelzimmer in der Nähe der Galerie. Er rasierte sich am Abend des Attentats, zog einen schwarzen Anzug an und nahm Dienstwaffe und Polizeiausweis mit. Und Mevlüt Mert Altintaş, so erinnerte sich ein Leiter des Zentrums für zeitgenössische Kunst in Ankara, kam schon vergangenen Freitag zu einer Ausstellung. Der Mörder inspizierte seinen Tatort. Am Montagabend erschoss der junge Polizist den russischen Botschafter Andrej Karlow. Nun muss die türkische Regierung unangenehme Fragen beantworten.

Die türkischen Ermittler nahmen gleich einmal die Familie fest – Eltern, Schwester, einen Onkel aus Aydın im Westen des Landes. Auch der Mitbewohner des jungen Polizisten wurde verhört. Doch am Tag nach dem Mord an dem russischen Botschafter wurden zumindest in manchen türkischen Medien kritische Stimmen laut. Warum war es dem Einsatzkommando nicht möglich, den nur mit einer Pistole bewaffneten 22-Jährigen außer Gefecht zu setzen und lebend zu fassen? Altintaş wurde stattdessen 15 Minuten nach dem Attentat von Kugeln der Sicherheitskräfte durchsiebt. Und wie ist es überhaupt möglich, dass ein Attentäter mitten im Regierungsbezirk der türkischen Hauptstadt, in nächster Nähe zur österreichischen, deutschen und US-amerikanischen Botschaft, einen offenbar ungeschützten russischen Botschafter erschießen kann? Während des Ausnahmezustands und der Dauermobilisierung von Polizei und Armee im Land?

US-Botschaft bleibt geschlossen

Um vier Uhr morgens am Dienstag, nur Stunden nach dem Attentat, feuerte ein Nachahmer auch auf die Vertretung der USA. Er wurde festgenommen. "Ich habe Allah einen Schwur geleistet. Spielt nicht mit uns", soll er den Polizisten auf der Fahrt zum Verhör gesagt haben. Die US-Botschaft blieb am Dienstag deshalb geschlossen, ebenso die anderen US-Vertretungen im Land.

Auch der Mord an Karlow hat offensichtlich einen islamistischen Hintergrund. Altintaş, der Polizist, reckte nach der Tat seinen linken Zeigefinger hoch in der Art muslimischer Extremisten, rief Allah an und sprach einige Worte in gebrochenem Arabisch. Rasch wurde eine Verbindung zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen gefunden, der in der Türkei für den vereitelten Putsch vom Juli verantwortlich gemacht wird. Altintaşs Onkel soll in einer Schule des Gülen-Netzwerks unterrichtet haben; diese wurde während der massiven Säuberungswellen seit dem Sommer bereits geschlossen.

Altintaş selbst hat merkwürdigerweise unmittelbar nach dem Putsch, am 16. und 17. Juli, zwei Tage Urlaub beantragt. Sein damaliger Vorgesetzter in Diyarbakır bewilligte den Antrag, obwohl ein generelles Urlaubsverbot galt. Altintaş fuhr nach Ankara. Unter der Privatadresse, die er angab, soll der Korrespondent der mittlerweile ebenfalls geschlossenen Gülen-Tageszeitung "Zaman" gewohnt haben, so verbreiteten Regierungsmedien. Der Journalist, der sich mittlerweile ins Ausland abgesetzt hat, widersprach und postete auf Twitter einen Auszug aus dem türkischen Melderegister. Altintaş wurde gleichwohl als Gülen-Verdächtiger im Oktober für kurze Zeit vom Dienst suspendiert. Gegen seinen früheren Vorgesetzten laufen angeblich weiter Ermittlungen.

Russland schickt Experten

Auf diplomatischer Ebene war die türkische Führung rasch um Schadensbegrenzung bemüht. Außenminister Mevlüt Çavuşoglu sass bereits im Flugzeug nach Moskau zu einem Treffen mit seinen russischen und iranischen Amtskollegen zu Syrien, als er von dem Attentat benachrichtigt wurde. Staatschef Recep Tayyip Erdoğan telefonierte noch am Montagabend mit dem russischen Präsidenten. Gemeinsame Ermittlungen wurden vereinbart, am Dienstag traf ein Team von 18 russischen Polizisten und Geheimdienstleuten in Ankara ein.

Wladimir Putin wie Erdoğan waren sich einig: Der Mord an dem Botschafter war ein Versuch, die russisch-türkischen Beziehungen zu beschädigen. Erst im Sommer dieses Jahres, vor dem Putschversuch und nach einem halben Jahr Eiszeit und wirtschaftlicher Strafmaßnahmen, war Erdoğan über seinen Schatten gesprungen und hatte sich bei Putin entschuldigt für den Abschuss eines russischen Kampfjets im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Der türkische Pilot, der im November 2015 auf den Knopf gedrückt hatte, wurde auch verdächtigt, dem Gülen-Netzwerk anzugehören. (Markus Bernath aus Istanbul, 20.12.2016)