Es ist wichtig, die rein ökonomische Begründung des Aufstiegs der neuen Rechten um eine anthropologische Reflexion zu erweitern. Aber genügt wirklich die Sorge über den Verlust kultureller Identität, um die oft völlig irrationalen Einstellungen und Handlungen der neuen Rechten in Europa ausreichend zu begründen? Wie wäre es dann zu verstehen, dass die angebliche Sorge der Nationalsozialisten um die Bewahrung der eigenen Kultur (damals vor allem gegen die Juden und alle Nichtarier) gerade zu ihrer desaströsen Zerstörung geführt hat? Und sind nicht gerade Fremdenangst und -feindlichkeit von heute Paradebeispiel dafür, wie Ängste geschürt werden, um latent vorhandene Aggressionen in Hass gegen andere zu kanalisieren?!
Es sind vor allem drei erklärungsbedürftige Punkte, die in der Analyse der neuen Rechten berücksichtigt werden müssten:
• die hochgradige Manipulierbarkeit ihrer Anhänger und Sympathisanten,
• die weitgehende Irrationalität ihrer Argumentationen und Handlungen,
• die hervorragende Rolle, die der Aggression dabei zukommt.
Wenn wir uns der Untersuchung komplexer und schwer fassbarer psychischer und sozialer Phänomene zuwenden, sollten wir Sigmund Freud nicht vergessen. Mit seiner Analyse der unbewussten Prozesse von Individuen und Gruppen hat er mehr zu deren Verständnis geleistet – und leistet es noch immer – als so manche der heute so geschätzten "data-based evidences".
Ein Beispiel dafür liefert der jüngste Versuch der Wiener Psychoanalytikerin Judith Ransmayr, einige zentrale Merkmale der neuen Rechten mithilfe von Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse als Phänomene einer Massenbildung zu verstehen. Deren oft unwiderstehliche Anziehung besteht demnach darin, dass das in seiner Macht relativ begrenzte Ich des Einzelnen immer wieder dazu tendiert, sich in einem doppelten Identifikationsprozess mit einem Führer (oder einer ihn vertretenden dominanten Idee) und den vielen anderen der Gruppe in einem mächtigen Gruppen-Ich aufzulösen.
Die normalen Spannungen zwischen dem Ich und seinen Idealen wie zwischen dem Ich und den anderen "verschwinden dabei wie durch Zauberhand, ebenso wie Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle. Das Ich-Ideal ist im Ich aufgelöst: Das ermöglicht ein verführerisches Gefühl des Triumphs, lässt einen quasi manischen Sog entstehen, gegen den das Kraut der Vernunft keine Chance hat." (Judith Ransmayr)
Nun ist diese Entlastung des Ichs durch Bildung eines Gruppen- oder Massen-Ichs ein ubiquitäres Phänomen. Wir kennen es alle mehr oder weniger, angefangen von Fußballmatches, Musikveranstaltungen und symbolträchtigen Feiern bis hin zu unserer Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zu einer sozialen Schicht oder zu anderen Gesinnungsgemeinschaften. Was diese "normalen" Massenbildungen allerdings auszeichnet und von "pathologischen" unterscheidet, ist einerseits ihre zeitliche Begrenztheit – nach dem rauschhaften Fußballmatch oder Popkonzert gehen wir wieder nach Hause und finden uns ohne gröbere Friktionen in unserer Alltagsrealität wieder.
In all unserer Identifizierung mit den Zielen und Mitgliedern einer Gruppe verlieren wir dennoch nicht die Möglichkeit einer kritischen Distanz, des Widerspruchs, und – wenn es sein muss – sogar der Trennung. Die pathologisch-destruktiven Massenbildungen – und zu ihnen sind viele der Phänomene der neuen Rechten zu zählen – zeichnen sich dagegen durch ihren das ganze Leben durchdringenden, unauflösbaren und nicht angreifbaren Charakter aus: Das Ich erscheint zur Gänze in der sich um ein Ideal bildenden Masse aufgelöst und aufgehoben.
Gefühl der Wertlosigkeit
Das Kriterium, das über das pathologische Ausmaß der Massenbildung entscheidet, finden wir in dem von Ransmayr angeführten Vergleich Freuds zwischen Manie und Masse. Manie ist auf individueller Ebene als eine großartige Reaktionsbildung auf Verlust-, Entwertungs- und Frustrationserfahrungen schwerster Depressionen zu verstehen – Ich und Ich-Ideal fallen zusammen, und alle Minderwertigkeit wandelt sich zu grandioser Macht. Die Unangreifbarkeit der Enttäuschung, der Wut und schließlich des Machtrausches der pathologischen Masse ist das direkt proportionale Gegenstück zum Ausmaß der Erfahrung gesellschaftlicher Entwertung: "Die Depression als gesellschaftliche, politisch-ökonomische Position kann als Phantasma des Ausgeschlossenseins verstanden werden. Das Gefühl von Ohnmacht, Machtlosigkeit und Wertlosigkeit erzeugt Aggression, die sich in rechten Gruppierungen gut und scheinbar folgenlos unterbringen lässt." (Ransmayr)
Ohne Zweifel war es das historische Verdienst der radikalen Linken am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, den Werktätigen nicht nur die Hoffnung, sondern auch die reale Erfahrung ihrer Beteiligung an der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gestaltung der Welt verschafft zu haben. Das Versagen dieser Bewegung, ihre Korrumpierung und Einbindung in die "ökonomischen Sachzwänge" des globalen Kapitalismus hat diese Hoffnung heute für viele zunichtegemacht.
Noch einmal Ransmayr: "Die versäumte Revolution, von der Žižek spricht, die den Aufstieg der Rechten befeuert, wäre also, psychoanalytisch gesehen, die Unfähigkeit der Linken, diesen Rückzug der politischen Subjekte aus dem öffentlichen Raum und Diskurs zu stoppen, Angebote zu machen, die eine andere Art der Beteiligung ermöglichen." Was so bleibt, ist für viele der Umschlag von Stolz in Wut. Ein Mac-Job, ein paar Euro Gehaltserhöhung oder andere Almosen werden nicht viel daran ändern – das Begehren des Menschen erschöpft sich nicht in der Bedürfnisbefriedigung. (Georg Gröller, 21.12.2016)