Premierministerin Theresa May vor dem Amtssitz in Downing Street 10. Nach dem Brexit-Votum übernahm sie David Camerons Job.

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Nach monatelangen widersprüchlichen Zahlen ergaben die Umfragen am Tag des Referendums ein klares Bild. Da fragten die Meinungsforscher die Briten nicht mehr, wie sie denn abstimmen wollten. Stattdessen wollten sie wissen, welchen Ausgang die Befragten erwarteten. Bis zu 70 Prozent der Briten, so das Ergebnis, sahen ein Votum für den EU-Verbleib voraus – und nur 19 Prozent tippten auf das korrekte Ergebnis. "Die Wählerschaft überraschte also nicht nur viele Experten, sondern auch sich selbst", resümiert Politikprofessor John Curtice von der Strathclyde-Universität in Glasgow sechs Monate danach. Und noch etwas weiß der Umfragenexperte: Das Land ist noch immer "genauso gespalten" wie an jenem 23. Juni 2016, als 51,9 Prozent den Brexit befürworteten.

Von Weihnachtsfrieden kann keine Rede sein, schon gar nicht für die Regierung von Theresa May. Gleich im neuen Jahr will die konservative Premierministerin eine programmatische Rede halten und dabei mehr zu ihrem Kurs für die bevorstehenden Brexit-Verhandlungen sagen.

Weiter Streit um Mitsprache

So hat es May zumindest versprochen. Hingegen mochte sie sich ausdrücklich nicht darauf festlegen, dass das Parlament über den wohl Anfang 2019 feststehenden Deal wird abstimmen dürfen. Damit steht sie im Widerspruch zu ihrem eigenen Brexit-Minister David Davis: Der hält es für "undenkbar", dass zwar das EU-Parlament – wie vom Lissabon-Vertrag festgelegt – abstimmen soll, nicht aber die britischen Volksvertreter in Westminster.

Widersprüche, sogar offene Streitigkeiten selbst unter Regierungsmitgliedern, gehören seit Monaten zu dem verwirrenden Bild, das Großbritannien seit seiner fundamentalen Entscheidung bietet. Man habe die "politisch stürmischste Periode seit dem Zweiten Weltkrieg" erlebt, behauptet ein rechtzeitig zum Halbjahrestermin erschienener Bericht des Thinktanks "UK in a Changing Europe".

Harter oder weicher Ausstieg

Dessen Direktor, der Politologe Anand Menon, hat eine Reihe von Experten unterschiedlicher Disziplinen um Stellungnahmen gebeten. Sein Fazit: Vieles deute auf den "harten Brexit" hin, also den Totalausstieg des Königreichs aus Binnenmarkt und Zollunion. So sieht das auch die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon. Die Chefin der Edinburgher Regionalregierung hat der Londoner Kollegin ein 50-seitiges Dokument über den Tisch geschoben. Damit will sie Druck machen für den "weichen Brexit", also den Verbleib im Binnenmarkt samt anhaltenden Milliardenzahlungen ins Brüsseler Budget.

Wenn diese Lösung für das Vereinigte Königreich als Ganzes nicht durchsetzbar sei, müsse Schottland eben eine Sonderlösung bekommen, argumentiert Sturgeon. Schließlich hat die stolze Nation im Norden der Insel mit 62 Prozent für den Verbleib gestimmt, heißt ihre schon bisher im Land lebenden EU-Bürger weiter willkommen und erhebt auch keine Einwände gegen weiteren Zuzug. Notfalls müsse das Unabhängigkeitsreferendum von 2014 wiederholt werden, drohen die Nationalisten. May hat eine ernsthafte Prüfung der Vorschläge zugesagt. "Sonst würde sie das Auseinanderbrechen der Union riskieren", glaubt Professor Michael Keatin von der Universität Aberdeen.

Viele offene Fragen bleiben

Risiken und Unsicherheiten beschäftigen nicht nur Regionen, sondern auch viele Berufsgruppen. Der Wirtschafts- und Finanzlobby haben Brexit-Minister Davis und sein Finanzkollege Philip Hammond erst kürzlich einen "sanften und ordnungsgemäßen" Brexit angekündigt. Wie der aussehen soll, bleibt offen. Eine Übergangsregelung für mindestens zwei Jahre wünscht sich Zentralbank-Gouverneur Mark Carney, May spricht lieber von einer "Implementierungsphase" und will während der zweijährigen Verhandlungen, die spätestens Ende März beginnen sollen, auch gleich einen neuen Handelsvertrag mit den 27 Partnern vereinbaren. Das wiederum halten alle Experten für illusorisch; Großbritanniens Vertreter in Brüssel spricht von einem Zeitraum von zehn Jahren, bis alles unter Dach und Fach sei.

"Rot, blau und weiß", in den Farben des Union Jack (und der französischen Flagge), solle der Brexit werden, hat May gesagt: Die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt könne gewiss einen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Deal erreichen. Vielleicht überraschen sich die Briten ja wieder selbst. (Sebastian Borger aus London, 23.12.2016)