
Ein Bambi des Erdmittelalters war Limusaurus nur in ausgewachsenem Zustand. Seine Kinder fraßen Fleisch.
Peking/Wien – Wer einer Gans in den Schnabel schaut, wird sich im ersten Moment vielleicht wundern, weil er glaubt, ein Maul voller Zähne zu sehen. Aber das täuscht: Es handelt sich nur um Einkerbungen bzw. Zacken an den Schnabelkanten, wie sie viele Vogelarten aufweisen – eine mit den Gänsen verwandte Gattung trägt sogar den bezeichnenden Namen Säger.
Noch in der Kreidezeit gab es tatsächlich Vögel, die echte Zähne mit Zahnschmelz im Schnabel hatten. Sie lebten neben den bereits zahnlosen Ahnen der heutigen Vögel, die allesamt kein Gebiss mehr haben. Eine US-Studie kam vor zwei Jahren zum Schluss, dass sich die Zahnlosigkeit vor etwa 116 Millionen Jahren herausgebildet haben muss.
Ob sich dieser wichtige Schritt in der Vogelevolution nur einmal oder mehrfach unabhängig voneinander vollzogen hat, schien damit geklärt. Allerdings ist in der Biologie selten etwas so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. Das zeigt eine Studie chinesischer Forscher, die im Fachmagazin "Current Biology" veröffentlicht wurde.
Die Forscher untersuchten einen etwa 160 Millionen Jahre alten Dinosaurier, der bei seiner Erstentdeckung 2009 für Aufsehen gesorgt hatte. Limusaurus inextricabilis war etwa 1,70 Meter lang, was durch den Körperbau mit langem Hals und noch längerem Schwanz aber größer klingt, als man ihn sich vorstellen darf: Der zierlich gebaute Saurier hätte einem Menschen nur bis zum Oberschenkel gereicht.
Und er war ein Sonderfall: Limusaurus war ein Theropode, gehörte also zu jener auf zwei Beinen laufenden Dinosauriergruppe, der auch die Vögel entstammen. Allerdings gehörte er nicht zu den direkten Vogelahnen. Trotzdem hatte er einen Schnabel ohne Zähne darin.
Fast vollständiger Lebenszyklus nachvollziehbar
Inzwischen hat man in der nordwestchinesischen Provinz Xinjiang 13 Exemplare dieser Spezies ausgegraben. Sie stammen aus verschiedenen Lebensstadien, vom Baby über jugendliche Tiere bis zum ausgewachsenen Exemplar. Und plötzlich standen die Forscher vor dem verblüffenden Faktum, dass diese Tiere mit mindestens 42 Zähnen im Maul auf die Welt kamen, sie aber nach und nach verloren, bis sie als Erwachsene vollkommen zahnlos lebten.
Laut Shuo Wang von der Pekinger Capital Normal University muss dies auch mit einer Ernährungsumstellung einhergegangen sein: Ausgewachsene Limusaurier waren reine Vegetarier, während ihre Kinder auch Fleisch fraßen: eine Diät, die dem schnellen Wachstum geholfen haben dürfte. Da die Umstellung auch Veränderungen im Verdauungssystem mit sich gebracht haben muss, sollen weitere Untersuchungen folgen.
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Laut Wang wäre angesichts der ungewöhnlichen Ontogenese dieses Tiers zu überlegen, ob sich der vogeltypische Schnabel nicht doch mehrfach unabhängig entwickelt haben könnte. Außerdem müsse man sich die Frage stellen, ob man sich von so mancher Theropodenart, die man bisher nur über Fossilien von Jungtieren kennt, auch wirklich das richtige Bild macht.
Auf jeden Fall sei Limusaurus der bislang einzig bekannte Fall eines Reptils mit ontogenetischer Zahnlosigkeit. Parallelen fand der Forscher dafür bei einem heute lebenden Tier, das aber ohnehin dafür bekannt ist, in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall zu sein: nämlich dem Schnabeltier. (Jürgen Doppler, 22.12.2016)