"Wir produzieren noch mehr Kranke mit diesen Entwicklungen in der neuen Arbeitswelt", sagt Psychologe Johann Beran.

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Beran: "Die Zukunft schönzureden, das entlastet."

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STANDARD: Wie wirkt sich die fortschreitende Digitalisierung, die neue Arbeitswelt, in den Unternehmen aus?

Beran: Ich erlebe einen Realitätsverlust in Unternehmen. Die Gruppe der Schönredner verstärkt sich wie eine neue Religion, die sich formiert: Die neue Arbeit wird so schön, die Zukunft wird so gut. Die Chancen sind so groß. Immer weniger Menschen müssen durch Digitalisierung und Automatisierung grausige Arbeit machen – wir werden alle eine Dienstleistungsgesellschaft.

STANDARD: Sie glauben offenbar gar nicht an die Versprechen der guten neuen Arbeitswelt ...

Beran: Nein. Zwischenzeitlich bringt die Digitalisierung in manchen Bereichen mehr, verdichtete Arbeit und zwingt zum Einziehen vieler neuer Kontrollsysteme. An solchen Mensch-Maschine-Schnittstellen sitzen Leute, die vor zig Bildschirmen einer Überwachungstätigkeit nachgehen, die immer das Damoklesschwert über dem Kopf haben, weil sie ja immer in Alarmzustand sind und quasi auf den "Notfall" warten. Es ist vielfach belegt, dass solche Bereitschaft – bei Ärzten, bei Piloten etwa – zu verminderten oder keinen Tiefschlafphasen führt. Das macht auf die Dauer krank. Die Digitalisierung beschleunigt die Restmenschen in Unternehmen noch einmal – sie sind aber relativ leicht zu tauschen, der Pool ist groß genug.

STANDARD: Was spricht gegen neue Dienstleistungen, die entstehen?

Beran: "Wir machen alle Dienstleistung" – das impliziert, dass alle Menschen dienstleistungsfähig sind. Das ist eine unglaubliche Lüge. Es gibt sehr viele Menschen, die das nicht können, sich auf andere einzulassen. Und: Wer soll die neuen Dienstleistungen konsumieren?

STANDARD: Dienstleistungsgesinnung ist aber vielleicht erlernbar ... Qualifizierbar, wie es so schön heißt ...

Beran: Wenn der Hintergrund in der Psyche liegt, dann geht es um Therapie. Psychische Schwierigkeiten lassen sich nicht mit Qualifizierung wegmachen. Es ist eine Illusion, dass aus jedem und jeder alles machbar ist. Dazu bedarf es eines Blickes auf die Persönlichkeitsstruktur. Das ist ja auch ein unbeschreiblicher Druck, alles jederzeit zu können.

STANDARD: Aber genau da kommt doch die wiederentdeckte Kreativität ins Spiel ...

Beran: Die meisten Menschen sind seit der Kindheit darauf gedrillt, im Rahmen und nach Regeln zu funktionieren. Es wird quasi der Job unter dem Hintern gefladert, und jeder muss sich was Neues überlegen, ist damit völlig auf sich selbst zurückgeworfen, und wenn er es nicht schafft: selbst schuld? Woher sollen wir das denn können? Wo haben wir das gelernt? Die Großmächtigen können es ja auch nicht, sie lügen sich selber an und reden die Welt für die anderen schön. Die kaufen praktisch ihren eigenen Ablasshandel. Das sind Gesellschaftslügen.

STANDARD: Veränderung wird ja selten mit beiden Armen freudig umschlungen ...

Beran: Ja, Veränderung ist prinzipiell anstrengend und meistens mit Widerständen versehen. So weit, so gut. Aber derzeit ist es ja so, dass man nicht einmal weiß, wohin man sich verändern soll. Das ist noch viel ängstigender, vor allem für Menschen, die jahrzehntelang gewohnt waren, unter Direktiven zu leben und zu arbeiten. Angststörungen nehmen ja bereits gewaltig zu, sie werden explodieren. Wir produzieren noch mehr Kranke mit diesen Entwicklungen in der neuen Arbeitswelt.

STANDARD: Erleben Sie das so in Unternehmen?

Beran: Ja. Rundherum. Statt arbeitspsychologisch tätig zu sein, bin ich eigentlich nur mehr klinisch eingesetzt. Endprodukte von Angststörungen sind dann Depression und ausgeprägte Psychosen. Das ist deutlich wahrnehmbar. Das betrifft längst nicht nur die sogenannten Älteren.

STANDARD: Ich höre oft bei Veranstaltungen mit dem Nachwuchs – nicht nur unter sogenannten High Potentials – dass es gut ankommt, wenn Trainer rufen: Werde der CEO deines eigenen Lebens!

Beran: Klingt doch fantastisch. Hoffen wir, dass das alle schaffen, reden wir uns unsere Zukunft und die Zukunft der anderen schön, das entlastet. Wer es nicht schafft, muss halt aussortiert werden.

STANDARD: Kein Thema für einfache Lösungen – also: Wie könnten die Auswege ausschauen?

Beran: Zuerst einmal aus den geschönten Fantasien in Sachen neue Arbeitswelt aussteigen. "Stecken wir sie in lebenslange Kurse" wird kein Ausweg sein. Es ist ein großer Umbau im Gange. Die Triebfeder für eine positive Veränderung ist Hinsehen – nicht Schönreden. Die ernsthafte Beschäftigung mit bedingungslosem Grundeinkommen ist jetzt zentral. Allerdings brauchen wir mehr als Beschäftigungstherapien. Um Ängste zu nehmen, bedarf es mehr als bloßer Versprechungen. Die werden auch nicht geglaubt. Das Modell "Hinter mir die Sintflut" funktioniert recht gut. Und dass Wirtschaft und Politik recht kurzfristig auf ihre Pfründen schauen, ist mittlerweile – das zeigen ja auch die Wahlergebnisse – angekommen.

STANDARD: Das bedeutet?

Beran: Diskurs auf allen Ebenen. Beteiligung möglichst aller Bereiche, Betroffenen, Steuernden. Die Fragen bezüglich der Gesellschaft, in der wir leben wollen und können, müssen öffentlich und laut gestellt werden. (Karin Bauer, 2.1.2017)