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Muslime in Hamburg gedenken der Opfer des Berlin-Attentats: Wo bleiben die Frauen?

Foto: AP / Axel Heimken

Der erste Hauptverdächtige nach dem Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt wurde schnell wieder freigelassen. Die Polizei hatte sich geirrt, ein Zeuge hatte den falschen Mann als möglichen Terroristen ausgemacht – einen Pakistaner, der Anfang des Jahres nach Deutschland geflüchtet war.

Die Umstände, wie es zu dem Verdacht gegen den Mann kam, sind vorerst im Dunkeln. Es scheint, als habe er selbst fluchtartig den Tatort verlassen. Vielleicht ist ihm, in den ersten Sekunden nach der Amokfahrt des Lkw und dem darauffolgenden Chaos, klargeworden, dass er als Flüchtling mit anderer Hautfarbe in unmittelbarer Tatortnähe verdächtig sein und in Schwierigkeiten kommen könnte. Vielleicht spazierte er aber einfach nur an der Siegessäule vorbei und wurde verwechselt – aus denselben Gründen.

Zynismus und Wahn

Beide Varianten zeigen freilich das grundlegende Dilemma: Mit ihren Anschlägen versetzen die selbsternannten IS-Terroristen nicht nur Angehörige der sogenannten Mehrheitsgesellschaften im Westen in Angst und Schrecken, verletzen und töten sie. Der Terror richtet sich auch direkt gegen jene, mit denen sie vermeintlich ihren Glauben teilen – unter ihnen viele Migranten und Flüchtlinge.

Mit welchem Zynismus und welcher Kälte die angeblich "Gläubigen" auch die zufällige Tötung ihrer Glaubensbrüder in Kauf nehmen, zeigen die Zeugenaussagen eines festgenommenen Salafisten. Der Mann war im Zuge der Ermittlungen rund um das Berlin-Attentat befragt worden und hatte berichtet, dass in einer Hinterhofmoschee, in der auch Anis Amri verkehrt hatte, ein Prediger Attentate per Lkw "empfohlen" habe. Nachsatz: Sollten dabei auch Glaubensbrüder sterben, seien das eben "Kollateralschäden", die der Prophet Mohammed gutheiße.

Hass und Ablehnung

Was bedeutet das für die überwiegende Mehrheit der Muslime, die mit diesen religiös Wahnsinnigen nichts zu tun haben? Ihnen schlägt seit Paris, Nizza, Würzburg, Berlin im besten Fall Skepsis und Misstrauen entgegen – im schlechteren Fall Hass und Ablehnung.

Sie müssen ausbaden, dass das schöne Wort von der Willkommenskultur längst wie ein Hohn klingt, sie bekommen zu spüren, dass immer mehr auch ursprünglich wohlmeinende Bürger von "Grenzen des Zumutbaren" sprechen und sich dagegen verwahren, dass Flüchtlinge in ihrer Umgebung untergebracht werden. Ihnen fällt schließlich auf den Kopf, dass die Gesellschaften, aus tatsächlicher oder vorgeschobener Terrorangst immer geschlossener und überwachter werden — und dass rechte Parteien mit ihrer Ausländerfeindlichkeit und ihren Law-and-order-Sprüchen immer mehr Zuspruch ernten.

Dem Problem stellen

In den alltäglichen Scharmützeln in den sozialen Medien und in den großen politischen Auseinandersetzungen geht es letztlich um "wir gegen die", Orient gegen Okzident, Christen gegen Muslime. Das zu leugnen wäre naiv, dem müssen sich letztlich auch die Vertreter der vielen unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften des Islam in Europa stellen. Immer wieder erscheinen nach schrecklichen Anschlägen, auch in diesem Medium, Beiträge, die zu Besonnenheit mahnen und davor warnen, Muslime unter einen "Generalverdacht" zu stellen.

Aber es wäre nicht verkehrt, wenn es auch eine gemeinsame muslimische Offensive gegen die Hetzer, Verdreher und Verführer in den eigenen Reihen gäbe. Es ist schön, dass deutsche Muslime nach dem Berliner Attentat in der Hauptstadt und in Frankfurt für Frieden und gegen Terror demonstrierten und sich klar distanzierten – und es ist auch verständlich, dass vielen diese ständige unterschwellige Forderung nach Distanzierung nervt. Aber darum geht es gar nicht. Es geht letztlich um nichts weniger als einen gesamteuropäischen islamischen Konsens darüber, wofür man steht und was man ablehnt.

Klare Abgrenzung

Die Abgrenzung muss klar sein: kein Stillschweigen mehr, wenn Salafisten in Hinterhofmoscheen predigen. Keine Duldung von aggressiven Anwerbeversuchen radikaler Prediger und Schriftenverteiler. Stattdessen: Anzeigen, öffentliches Auftreten dagegen, mutiges Eintreten für die friedliche Seite des Islam.

Über alle Gegensätze der Glaubensauslegungen hinweg sollten der gemeinsame Wille und die vereinte Anstrengung stehen, eine Koran-Auslegung zu vertreten, die mit dem Leben in westlichen Demokratien kompatibel ist. Und die Frauen lebensnah einbindet: Es kann nicht sein, dass jeder Ansatz von emanzipierter Lebensweise, die mehr will als Ehemann, Heim und Herd, von männlichen Religionsauslegern gleich als unschicklich und ergo "haram" abgetan wird.

Glaubt man österreichischen Deradikalisierungsexperten, ist die Attraktivität des IS unter jungen Menschen ohnehin rückläufig. Diese Chance sollte man ergreifen – da sollten sich auch die Glaubensgemeinschaften mehr engagieren. (Petra Stuiber, 23.12.2016)