Wien – Im Boxsport nennt man es einen Lucky Punch, wenn ein Unterlegener seinen Gegner mit einem einzigen Schlag so glücklich trifft, dass der zu Boden geht. Das könnte Paul-Mihail L. gelungen sein. Nur war es ein Unlucky Punch – sein Kontrahent fiel wie ein Brett um, knallte mit dem Hinterkopf auf den Asphalt. Und zog sich so einen offenen Schädelbasisbruch und Hirnblutungen zu, die ihn wochenlang in Lebensgefahr schweben ließen.

"Haben Sie Vorstrafen?", fragt Richter Thomas Spreitzer den 34-jährigen Rumänen zu Beginn. "Hier nicht." – "Na ja, hier haben Sie schon eine." – "Aber ich war nicht im Gefängnis." – "Das nicht, aber Sie haben im Sommer 2015 wegen Körperverletzung, Diebstahl und Verleumdung fünf Wochen bedingt bekommen", klärt ihn der Richter auf.

Vergewaltigung und versuchte Tötung

Heftiger wird es, als der Richter die europäische Strafregisterauskunft vorliest. Der Angeklagte ist in seiner Heimat 1999 wegen Vergewaltigung verurteilt worden, im Jahr 2007 erhielt er für ein versuchtes Tötungsdelikt acht Jahre Haft.

Im Fall der Auseinandersetzung am 10. Oktober bei einem Würstelstand am Wiener Westbahnhof bekennt sich L. allerdings nicht schuldig. Denn er habe Herrn N. aus Angst geschlagen, plädiert er auf eine irrtümlich angenommene Notwehrsituation.

"Ich kannte ihn aus unserem Dorf", sagt der Bauarbeiter. Am Westbahnhof sei man einander zufällig über den Weg gelaufen. "Er ist mit seinem Neffen gekommen und hat gesagt, sein Sohn ist wegen meinem Neffen im Gefängnis", erzählt er Spreitzer. "Warum denn?", wundert sich der. "Ich weiß es nicht genau. Es soll eine Schlägerei gegeben haben, und mein Neffe soll ihn angeschwärzt haben."

Angeklagter durch Messerstiche verletzt

Die Auseinandersetzung der beiden in Österreich beschäftigten Bauarbeiter sei lautstark gewesen. "Dann hat er in die Tasche gegriffen. Ich hatte Angst, dass er ein Messer zieht!", beschreibt der Angeklagte. Der damit Erfahrung hat: Erst im Sommer wurde er durch Stiche schwer verletzt. Er zeigt dem Richter die Narben im Bereich der Leber und am Oberschenkel.

In der Psychologie kennt man tatsächlich den "hostile expectation bias". Was bedeutet, dass man die Tendenz hat, bei einem Konflikt auch unbegründet eine aggressive Reaktion des Gegners zu erwarten – und deshalb zuerst aktiv wird.

Aus Angst habe er daher den Kinnschlag verpasst, die dramatischen Folgen täten ihm aber leid. "Herr L., Sie sind ja kein unbeschriebenes Blatt wegen Gewaltverbrechen ...", beginnt Spreitzer. "Ja, aber was hätte ich machen sollen? Mich niederstechen lassen? Schauen Sie einmal nach, wie viele von der Familie im Gefängnis sitzen." L. sagt auch, der 49-jährige Herr N. habe immer ein Klappmesser dabeigehabt. Gefunden wurde nach der Tat allerdings keines.

Zeugen mit divergierenden Versionen

Bei den Zeugenaussagen zeigt sich wieder einmal, dass diese zumindest mit höchster Vorsicht zu genießen sind. Denn die drei erschienenen Zeugen erzählen völlig unterschiedliche Versionen.

Frau L. ist die erste, sie hatte sich mit einer Arbeitskollegin gerade etwas zu essen geholt. Es habe einen lauten Streit gegeben, dann sei es ruhiger geworden. "Der jüngere Herr (sie meint den Angeklagten, Anm.) ist dann schon weggegangen. Der Ältere hat scheinbar noch etwas Provokantes gesagt, der Jüngere ist dann zurückgekommen und hat ihm mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen."

Sie ist sich sicher, dass es nicht die Faust gewesen ist. Und sie habe alles ganz genau beobachtet, versichert sie. "Ich hatte auch Angst, dass irgendwer plötzlich ein Messer zieht. In der heutigen Zeit weiß man das ja nicht", sagt die 27-Jährige.

Nur aus dem Augenwinkel

Die Aussage wird durch ihre Arbeitskollegin allerdings etwas konterkariert. Erstens sagt sie, sie habe sich mit der ersten Zeugin gerade unterhalten und das Geschehen nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Sie habe zwar den Streit mitbekommen, aber nur gesehen, dass die beiden Kontrahenten erst auseinandergesprungen seien und L. dann zugeschlagen habe.

Der aus Rumänien angereiste Neffe des Opfers bietet wiederum eine andere Version. Es habe überhaupt keinen lauten Streit gegeben, man habe ruhig miteinander gesprochen. Dann habe L. dem Opfer einen Ellbogenschlag verpasst, man habe die Distanz vergrößert, dann sei die Faust gekommen. Die ganze Sache habe überhaupt nur eine Minute gedauert.

Opfer in Art Wachkoma

Stephanie Arbes, die medizinische Sachverständige, berichtet, dass Herr N. noch immer in einer Art Wachkoma liege und künstlich ernährt werden müsse. Sie weiß auch, dass das Opfer bei der Einlieferung 2,23 Promille Alkohol im Blut hatte. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit werde er wegen der Verletzungen an schweren Dauerfolgen leiden.

Ein Befund, der Spreitzer schließlich dazu bewegt, sich nicht rechtskräftig für unzuständig zu erklären. Gibt es durch eine schwere Körperverletzung Dauerfolgen, ist nämlich ein Schöffengericht zuständig, da sich der Strafrahmen auf ein bis zehn Jahre Haft erhöht. (Michael Möseneder, 24.12.2016)