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In Herzls "neuer Gesellschaft" sind Frauen und Männer gleichberechtigt, und es gibt kein Militär: Ersteres hat Israel wie wenige andere Staaten verwirklicht, bei Zweiterem lag er falsch.

Foto: APA / EPA / Abir Sultan

Die Ouvertüre war schon fast vorüber, als sie in die Loge traten." So beginnt ein Kapitel des utopischen Romans "Altneuland", in dem Theodor Herzl 1902 beschreibt, wie er sich das Leben im Judenstaat des Jahres 1923 vorstellt. In Altneuland (genau genommen ist es kein Staat, sondern eine "Gesellschaft", deren Mitglieder das Wahlrecht haben) gibt es "dieselben Bequemlichkeiten wie in den Großstädten Europas", und daher auch ein prächtiges Opernhaus. Das würde man im Orient eher nicht erwarten.

Aber der in Budapest geborene Wiener Journalist lag damit ziemlich richtig, denn im 1948 gegründeten Staat Israel wirkte von der ersten Minute an ein nationales Opernensemble, in dem dann etwa der blutjunge Plácido Domingo Lehrjahre absolvierte. Seit 1994 hat die israelische Oper in Tel Aviv eine gut besuchte moderne Spielstätte nach höchsten Standards. Nicht beherzigt wird Herzls Dresscode, wonach die Herren beim Opernbesuch "weiße Handschuhe" tragen müssen – in Israel ist die Kleidung immer und überall sehr "casual".

Und die altneuländische Oper steht natürlich in der Hafenstadt Haifa, die Herzl als vibrierende Kultur- und Technikmetropole des künftigen Judenstaats imaginierte. Diese Rolle sollte aber Tel Aviv zufallen, was der Prophet nicht vorhersehen konnte, weil Tel Aviv erst ab 1909, fünf Jahre nach Herzls frühem Tod, aus den Sanddünen nördlich von Jaffo hervorschoss.

Der Name "Tel Aviv" ("Frühlingshügel"), der für die neue Siedlung gewählt wurde, ist übrigens der Titel, den der Roman "Altneuland" in der hebräischen Übersetzung bekommen hatte.

Durchdachte Prophezeiung

Herzls Zukunftsschilderung, romantisch-naiv und zugleich bis in kleinste technische und wirtschaftliche Details durchdacht, wirkt in manchen Passagen wie ein Reiseführer durch das heute real existierende Israel: "Palmen, hier ein gewöhnlicher Baum, standen überall rechts und links an den Rändern aller Straßen", und was die staunenden Besucher zunächst für "Paläste" halten, das sind "Bureauhäuser verschiedener europäischer Seehandelsgesellschaften" – da denkt man automatisch an die Glaskästen, die sich Apple, Intel oder Microsoft in Israel hingestellt haben.

Am Freitagabend erlahmt der Verkehr, und "der Sabbat senkte sich langsam und feierlich auf die vorhin laute Stadt". Die Währung in Altneuland ist, wie in Israel, der Schekel (so hießen schon die Münzen, mit denen der biblische Abraham bezahlte). Und "es gibt gar keine kleinen Läden", weil das unwirtschaftlich wäre, sondern nur "Kaufhäuser", was den Drang israelischer Unternehmer vorwegzunehmen scheint, die Konsumenten mit Einkaufs-Malls zu beglücken. Eine "Telephonzeitung" wirkt wie ein Vorläufer jener Informationstechnologien, die Israel zur "Start-up-Nation" gemacht haben.

Überoptimistisch war Herzl aber mit der Ansage, in Altneuland, wo ja alles von Grund auf neu gebaut wurde, habe man "unter unseren Straßen Hohlräume zur Aufnahme aller möglichen schon vorhandenen und noch kommenden Drahtleitungen und Röhren für Gas, Wasser und Kanalisation" vorgesehen. In Israel werden bis heute Fassaden durch wuchernde Stromdrähte, Gasleitungen, Wasserrohre und Fernsehkabel verschandelt, und sogar in teuren Vierteln sind manche Häuser noch nicht an die Kanalisation angeschlossen.

Ein bisschen hochgestapelt ist auch das "donnernde Brausen", mit dem das Wasser aus einem zehn Meter breiten und drei Meter tiefen Kanal ins Tote Meer stürzt, das an der niedrigsten Stelle der Erdoberfläche liegt. Aber Herzl hat richtig gesehen, dass durch das Gefälle Strom erzeugt und zugleich das Wasser ersetzt werden kann, das dem Salzsee durch die Entnahme am Oberlauf des Jordan entgeht. Als israelisch-jordanisch-palästinensisches Projekt wird der "Totes-Meer-Kanal" (Herzls Diktion) jetzt gerade Wirklichkeit.

Anders als in Altneuland fließt das Wasser dabei nicht ostwärts aus dem Mittelmeer, sondern nordwärts aus dem Roten Meer. So soll ab 2020 das Austrocknen des Toten Meeres gestoppt und zugleich mit dem gewonnenen Strom eine Entsalzungsanlage betrieben werden. Freilich, dass "die Kraft vom Jordangefälle ... oder von den Bächen des Libanon" über "großartige Talsperren" den ganzen Judenstaat mit Energie versorgen könnte ("Statt der Kohle haben wir das Wasser"), war eine Fehleinschätzung Herzls.

Neben der Spur bei der Bahn

Damit verknüpft ist die "elektrische Bahn", die an vielen Stellen des Romans auftaucht, aber noch immer eine Schimäre ist. Israel baut zwar Raketen und Satelliten, hat aber erst in den letzten Jahrzehnten begonnen, sein hoffnungslos rückständiges Bahnwesen zu entwickeln, und die Wagons werden immer noch von Dieselloks gezogen. Erst im März 2018 soll, zwischen Tel Aviv und Jerusalem, die erste elektrifizierte Strecke fertig werden. Herzls Romanfiguren hingegen können im "Salonwagen" nicht nur billig von Haifa nach Nazareth und Tiberias sausen.

Die "Schienenstränge" führen auch nach Beirut, Kunetra und Damaskus, und man kann "ja überhaupt ohne den Wagen zu wechseln ... von Berlin oder Wien ... nach Jerusalem fahren". Von da hätte man wieder "Anschluss nach Ägypten und Nordafrika". Herzl hatte erkannt, dass der Judenstaat geografisch "an einer vorzüglichen Stelle dieses Netzes" liegen würde und zu einer Brücke zwischen den Kontinenten werden könnte: "Das weiß doch jedes Kind, dass man nach Asien nicht mehr durch den Suezkanal fährt." Er ahnte aber nichts vom Dauerkriegszustand mit den Nachbarn, der einen Grenzverkehr unmöglich macht.

Ganz im Gegensatz zu Israel hat Altneuland daher auch keine Armee – die Jugend wird bloß in "Turn- und Schützenvereinen" ertüchtigt, und "alle Mitglieder der neuen Gesellschaft, die männlichen wie die weiblichen, müssen zwei Jahre ihres Lebens dem öffentlichen Dienste widmen". Dass "die Frauen gleichberechtigt mit den Männern" sind, war zu Herzls Lebzeiten ein beinahe revolutionäres Programm, das in Israel relativ gut verwirklicht ist.

Den hohen Anspruch, dass es keine professionellen Politiker geben soll ("Im Übrigen ist die Politik bei uns kein Geschäft oder Beruf, weder für Männer noch für Frauen"), hat Israel (oder irgendein anderer Staat) allerdings bisher nicht erfüllt. Der opportunistische und fremdenfeindliche Dr. Geyer, Anführer einer "Hetzpartei", verliert in Altneuland natürlich die Wahlen.

Religion als Privatsache

Herzl, mehr fortschrittsgläubiger Sozialreformator als Nationalist, entwirft einen Judenstaat, in dem die Religion Neben- und Privatsache ist. Die Juden haben in Jerusalem ihren von den Römern zerstörten "großen Tempel" wiedererrichtet, aber nicht an dessen ursprünglichem Platz auf dem Tempelberg, wo weiterhin "die Omarmoschee" steht. Man sieht "versöhnte Pilgerzüge wallen", alle respektieren den "sogenannten Status quo".

Die genauen "Besitzverhältnisse dieser von Glauben geheiligten Orte" sind niemandem wichtig. Schön wär's, aber immerhin: War Palästina zu Beginn des 20. Jahrhunderts Teil einer vergessenen, heruntergekommenen Provinz des Ottomanischen Reichs, so gibt es heute in Israel wirklich, wie von Herzl prophezeit, "kolossalen Fremdenverkehr, neue Hotels, Massenherbergen und Klöster".

Schwer unterschätzt hat der treuherzige Herzl dabei das Konfliktpotenzial. Die "arabischen Mohammedaner" sehen "diese Juden nicht als Eindringlinge an", denn der Judenstaat hat den armseligen Dörfern Palästinas "Arbeitsgelegenheit, Nahrung, Wohlergehen" gebracht. "Die Juden haben uns bereichert, warum sollten wir ihnen zürnen?", sagt in der Programmschrift der vornehme, sanfte Araber Reschid Bey, der in einer Villengegend auf dem Karmelberg in Haifa wohnt. "Sie leben mit uns wie Brüder, warum sollten wir sie nicht lieben?"

In diesem entscheidenden Punkt ist Herzls "Lehrdichtung" ein Märchen geblieben. (Ben Segenreich, 26.12.2016)