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Wo kein Geräusch, da keine Stille: Sie existiert nur vor der Folie des Hintergrundlärms. Allerdings suchen Menschen selten die Stille – sie begnügen sich mit der Ruhe.

Foto: Picturedesk / dpa / Nicolas Armer

Es ist nicht völlig still im Meditationsraum. Aus dem Innenhof dringt das Klappern von Absätzen herauf, jemand geht, eine Tür fällt ins Schloss. Ich glaube, das Rauschen meines Blutes in den Ohren zu hören, meine Knie schmerzen im ungewohnten Schneidersitz. Ich bin Anfängerin in der Sitzmeditation, dem Zazen. Vier Menschen haben sich heute in einem buddhistischen Zentrum im ersten Wiener Gemeindebezirk getroffen, um unter Anleitung zu schweigen.

"Wir versuchen im Zazen, in der Gegenwart, anzukommen. Deswegen ist es günstig, alles wegzulassen, was uns ablenkt. Dabei ist die Stille hilfreich", erklärt Christian Helbock, der seit 25 Jahren Meditationserfahrung hat. "Wir stöpseln unsere Ohren aber nicht zu, es gibt keine Trennung zwischen innen und außen. Jedes Geräusch, das zufällig in den Raum dringt, verstärkt die Stille", fährt er fort. "Wahrscheinlich gibt es die Stille gar nicht absolut. Der menschliche Geist funktioniert schon antagonistisch – ohne Lärm keine Stille."

Das sagt auch Hannes Raffaseder, Professor am Department für Medien und digitale Technologien an der FH St. Pölten. Er selbst hat Nachrichtentechnik an der TU und Computermusik an der Universität für Musik und darstellende Kunst studiert, eine ungewöhnliche Kombination.

"Ich persönlich glaube", sagt er, "dass es die tatsächliche Definition der Stille noch nicht gibt." Aus technischer Sicht gebe es natürlich Dezibelskalen und Normen, aber die Frage, was genau null Dezibel sind, sei sehr schwierig. Raffaseder: "Ich glaube, dass da ein interdisziplinärer Zugang ein absolutes Muss ist. Es geht schließlich um unser Hörerlebnis: Was passiert mit uns?"

Das Rauschen eines Gebirgsbachs, des Meeres, einer Autobahn oder des TV-Geräts seien, technisch betrachtet, ein fast identes Geräusch von Pegelwerten. Erst unsere Wahrnehmung gibt ihnen Sinn. "Ich hatte die Gelegenheit, am Südchinesischen Meer eine fast völlig störungsfreie Aufnahme zu machen", erzählt Raffaseder. "Wenn ich die den Studenten im Hörsaal vorspiele, herrscht Ratlosigkeit. Die können das gar nicht einordnen." Erst durch den Kontext bekomme das eine Färbung: "Mische ich das Geräusch von Passanten dazu, denken sie an das Rauschen einer Straße, mische ich Möwen dazu, ans Meer."

Stille als Luxusgut

Der Kontext ist also wichtiger als die eigentliche Definition. Dieser Kontext könne visuell, zeitlich oder akustisch sein. "Es ist ein Fehler, akustische Ereignisse isoliert betrachten zu wollen statt im Orchester der Sinne", sagt Raffaseder.

Es gebe vier entscheidende Wirkungs- und Bedeutungsebenen: direkte Wirkungen, auf die wir unmittelbar reagieren, wie zum Beispiel in der Musiktherapie. Durch Konvention erlernte Wirkung: Unsere Sprache besteht zum Beispiel aus nichts anderem als akustischen Signalen, erst durch Konvention verstehen wir sie. Symbolhafte Wirkung, die stark von der Kultur geprägt sei, und schließlich der eigentliche Informationsgehalt: "Jeder Klang, auch wenn er noch so kurz ist, trägt sehr komplexe Informationen. Mit den Fingerknöcheln auf den Tisch zu klopfen klingt anders als mit der flachen Hand."

Im Zeitalter der Digitalisierung falle uns durch die Dauerbeschallung die Fokussierung immer schwerer, sagt der Schallforscher. Daher käme unter anderem unser Wunsch nach Stille, die sich zu einem regelrechten Hype auswachse. So bietet zum Beispiel eine österreichische Therme neuerdings einen speziellen Spabereich an, in dem Stille als besonderes Luxusgut angeboten wird.

Aber Stille mache Menschen auch Angst: "Völlige Stille ist nicht von ungefähr Totenstille", sagt Raffaseder. Große Automobilkonzerne hätten extrem schallisolierte Räume, berichtet er: "Ich war in einem solchen Raum, das ist sehr unangenehm. Bei vielen Menschen löst das Beklemmung aus. Unser Gehör ist so sensibel, dass wir dort beginnen, unseren Körper zu hören." Deshalb sehe das Akustikdesign in der Automobilindustrie auch immer ein leises Motorengeräusch vor, obwohl das auch bei einem bezingetriebenen Motor heute nicht mehr notwendig wäre.

Hilfreich für das Gehirn

"Bei unseren Verhaltensexperimenten arbeiten wir im Labor schon mit der Elimination von Geräuschen", berichtet auch Ulrich Ansorge, Professor für psychologische Grundlagenforschung an der Universität Wien, "aber nicht in schalltoten Räumen. Größtmögliche Stille ist gut für unsere Experimente, weil sie für die Konzentration förderlich ist."

Bei der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) könne man nur über die Differenz von Zuständen der Hirnaktivität Aussagen machen, das heißt, man vergleiche Phasen unterschiedlicher Aktivität. Es geht um aktive Phasen der Aufgabenbearbeitung, die man mit sogenannten Base-Line-Phasen vergleiche, wo nichts passiere – einer Art Ruhephase. Es zeige sich, dass in der Ruhepause das Gehirn sehr aktiv sei. Es gibt keine Reize mehr von außen, und gerade da ist der Geist sehr aktiv. "Ähnlich verhält es sich mit der Stille", sagt Ansorge.

Die Stille ist also hilfreich. Aber eigentlich sei es die Ruhe, die wir suchten, nicht die Stille, ist Technikprofessor Rafaseder überzeugt. "Es geht um eine bewusste Reduktion. Wir merken, es ist etwas nicht in Ordnung in unserer Welt. Wir drücken kurz die Pausetaste, dann geht es wieder weiter."

Klar werden

Der Zenbuddhist Thomas Palfinger verwendet folgendes Bild: "Im Zazen ist es wie mit einem Glas Wasser. Es ist trüb und aufgewühlt, aber wenn wir es stehenlassen, wird es klar. Genau so ist es mit unseren Gedanken." Die Stille werfe jeden auf sich selbst zurück. Deswegen sei sie in vielen Religionen wichtig – etwa bei den Karmelitinnen und anderen Schweigeorden. Der Zenbuddhist sagt: "Man ist mit Menschen anders zusammen in der Stille. Sie werden ungefährlich. Die anderen und sich selbst nicht zu stören geht viel leichter, wenn es still ist. Wir kommen zur Ruhe und sind nicht länger Teil dieser permanenten Selbsterzählung."

Aber: Wo kein Geräusch, da keine Stille. Es gibt sie nur auf der Folie des Hintergrundes. Meditationsprofi Helbock zitiert zum Beweis das berühmte Haiku (ein japanisches Kurzgedicht) von Matsuo Basho:

"Der alte Teich.
Ein Frosch springt hinein.
Platsch!"

(Tanja Paar, 25.12.2016)