Churchill rief 1946 die "Vereinigten Staaten von Europa" aus, jetzt kommt der Brexit.

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"Brexit means Brexit", sagt die britische Premierministerin. Schön und gut, aber was der Brexit, also der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, genau involviert – das bleibt die britische Regierung bisher schuldig. Innerhalb der Regierung spielen sich heftige Grabenkämpfe darum ab, wie das künftige Verhältnis Großbritanniens zu "Europa" (so nennen die Briten von jeher die verschiedenen Inkarnationen der heutigen EU) sein soll.

Die Befürworter eines "harten Brexit", das sind der Brexit-Minister Davis, Außenminister Johnson und Außenhandelsminister Fox, stellen die Kontrolle über ihre Außengrenzen gegen Migration (von EU-Bürgern) und die Möglichkeit, eigene, "britische" Handelsabkommen (die EU hat über 60) zu schließen, über alles und wollen daher auf eine Teilnahme der Briten am Binnenmarkt (gemeinsame Regeln für alle EU-Mitglieder) oder an einer Zollunion (gemeinsamer EU-Außenzoll) am liebsten verzichten. Dabei sind diese Minister einander spinnefeind und bekämpfen einander, wo sie nur können. Ob es ein kluger Schachzug von Premier May war, ausgerechnet die Austrittsbefürworter mit der Vorbereitung der Austrittsverhandlungen zu betrauen, wird sich erst herausstellen. Einerseits war es sicher clever von ihr, den großmäuligen, lügnerischen Befürwortern in der Brexit-Kampagne nun die Mühen der Ebene zu überantworten, andererseits aber spaltet sie damit die Regierung und kann sich dann letztendlich – wann immer es zu einem tatsächlichen Austritt kommt – nicht selbst die (politischen) Lorbeeren zurechnen.

Für einen "sanften" Austritt, das heißt, möglichst weiterhin im Binnenmarkt oder der Zollunion zu verbleiben und dafür aber keine oder nur geringe Kontrolle über die Zuwanderung zu bekommen, tritt Finanzminister Hammond (und einige andere Regierungsmitglieder) ein. May selbst hat sich bisher aus der Richtungsentscheidung herausgehalten und nur abgelehnt, eventuell eine zweite Volksabstimmung zuzulassen, die vielleicht das Ergebnis umdrehen könnte. Sie hat den Briten versprochen, den "bestmöglichen Deal" für sie herauszuholen. Was das bedeuten kann, ist fraglich, denn dazu braucht sie die 27 anderen EU-Regierungschefs und die Kommission.

EU ohne Britannien

Die "Rest-EU" ist ebenfalls unentschlossen: Einige meinen, die EU solle den Briten möglichst wenige Zugeständnisse bei den Austrittsverhandlungen machen, um etwaige Nachfolgetäter, die sich dann auch ihre je eigenen Rosinen herauspicken wollen, zu entmutigen; wieder andere sind der Meinung, die Rest-EU müsse den Briten möglichst weit entgegenkommen, da Britannien nicht nur ein wichtiger Handelspartner sei, in den die EU mehr exportiert, als sie aus ihm importiert, sondern vor allem als Nuklearmacht ein wichtiger politischer Akteur auf globaler Ebene sei. Vor allem die "neuen" Mitgliedstaaten, von denen besonders viele Staatsbürger in Britannien leben und arbeiten, sind vehement gegen Zugeständnisse bei der Freizügigkeit bzw. eine mögliche politische Schlechterstellung ihrer Landsleute in Britannien. Die EU kann sich allerdings derzeit weitgehend zurücklehnen, da einhellig die Meinung vorherrscht, dass man mit Britannien keine "Vorverhandlungen" irgendeiner Art führen solle, bevor es nicht selbst seinen notwendigen Austrittsantrag nach Art. 50 TEU stelle. Realpolitik läuft natürlich anders: Theresa May und ihre Regierungsmitglieder sondieren laufend, wollen Stimmungen erkunden und vor allem Sympathie für einen "guten Deal" für Britannien erzeugen und wenn möglich schon jetzt mehr oder weniger bindende Zusagen von einigen wichtigen EU-Mitgliedern erlangen.

Hohe Austrittskosten für die Briten

Die Briten haben sich jedenfalls mit dem Referendumsergebnis eine gehörige Baustelle aufgehalst. Vierzig Jahre institutionelles Zusammenwachsen mit Europa kann man nicht ohne bislang unwägbare, aber sicher große Kosten auflösen. Die britische Wirtschaft hat massiv vom Beitritt 1972 profitiert. Der starke Wissenschaftssektor ist einer der größten Bezieher von EU-Forschungsgeldern, britische Wissenschafter sind (noch) an den meisten großen EU-Forschungsprojekten beteiligt. Die benachteiligten Regionen im Osten und im Norden des Landes, wo besonders viele Briten für den Austritt gestimmt haben, haben massiv Regionalförderung erhalten; der Londoner Finanzsektor wickelt fast den gesamten EU-Zahlungsverkehr mit Drittwährungen ab und macht mehr als die Hälfte seines Gewinnes im EU-Geschäft; die Bankenaufsicht der EU sitzt in London, London hat sein Veto vielfach gegen eine gemeinsame Steuerpolitik eingelegt; die Erntearbeiter und viele Tourismusangestellte sowie mehr als ein Drittel der Angestellten des riesigen Finanzmarktes kommen aus "Europa". Für den Finanzsektor ist der "europäische Pass" besonders wichtig, da damit in Britannien sitzende Banken derzeit alle europäischen Finanzgeschäfte erledigen können. Im Austrittsfall müssten Bankniederlassungen in der EU gegründet und für jedes Geschäft und jedes Land eigene Bewilligungen eingeholt werden. Und dennoch: Der populistische Ruf nach Wiedererlangung der "Souveränität" (was bedeutet das eigentlich über die Tatsache hinaus, dass man damit theoretisch den Zuzug von EU-Ausländern beschränken kann?) hat über das "Krämervolk" der Briten gesiegt. Auch ich hatte prognostiziert, dass die Briten, sehr auf den Inhalt ihrer Geldbörsen bedacht, für ihren ökonomischen Vorteil und gegen den verführerischen Ruf nach mehr Eigenkontrolle stimmen würden. Dabei sind sie, so wie viele Bürger in Kontinentaleuropa, den USA, aber auch Indien und Lateinamerika, den furchtbaren Vereinfachern, den Vorgauklern der Vorzüge der Eigenständigkeit auf den Leim gegangen.

Rein rational gesehen war es ja wirklich verwunderlich von der (vorigen) Regierung, zu erwarten, dass ein Austritt abgelehnt würde: Seit Generationen haben britische Regierungen, sowohl sozialdemokratische als auch konservative, gegen die EU gemotzt, haben von der "special relationship" zu den USA als EU-Ersatz geträumt – auch wenn ihnen die Amerikaner immer wieder gesagt haben, dass Britannien für sie vor allem als Zutrittsland in den EU-Markt wichtig ist. Japan hat den Briten (als größter Auslandsinvestor) dasselbe gesagt und mit der Abwanderung gedroht. Aber die Briten träumen noch immer vom British Empire, von ihrer alten Weltmachtrolle, von ihrer Insellage, die ihnen besondere Vorteile bringe. Wie glaubwürdig konnte die Cameron-Regierung für einen Verbleib in der EU eintreten, wenn sie diese vor ihren Stimmbürgern immer wieder denunziert hat als Regulierungsmonster, als "unbritisch", als bürokratischen Leviathan. Britische Minister und vor allem Staatsangestellte trauen sich nicht, die (möglichen) Nachteile eines Austritts in der Öffentlichkeit zu diskutieren, da von den Brexit-Befürwortern sofort eine massive Einschüchterungskampagne gestartet wird. Peanuts, aber dennoch nicht unwichtig ist die Tatsache, dass Britannien keine erfahrenen Außenhandelspolitiker und vor allem -verhandler mehr hat, da die Handelspolitik seit dem Beitritt von der EU-Kommission gemacht wird (Kanada hat 300 hochqualifizierte Verhandler). Ebenso dass an der künftigen EU-Außengrenze zu Irland Zollstationen errichtet und mit Zöllnern bestückt werden müssen. Wie im Eurotunnel die notwendigen Kontrollen geschaffen werden können, hat sich ebenfalls bisher niemand überlegt. Was die Etablierung einer Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland bedeutet, wo seit dem Friedensprozess die Grenze auch in den Köpfen verschwunden ist, bleibt offen. May hat den Schotten, Walisern und Nordiren zugesichert, die Austrittsbedingungen mit der EU gemeinsam mit ihnen festzulegen: Da die Schotten und Waliser stark pro Verbleib abgestimmt haben, scheint dies einer Quadratur des Kreises nahezukommen. Die schottische Regierungschefin Sturgeon hat schon mehrfach mit einem neuen Abspaltungsreferendum für Schottland gedroht, sollte May Ernst mit dem Austritt machen, da die Schotten bei der EU bleiben wollen. Ähnlich für Wales. Möglicherweise verwalten die (dann englischen) Premierminister in zehn Jahren ein "Little England": außerhalb der EU, ohne Schottland und Wales. Cameron dürfte sich dies anders vorgestellt haben, als er 2013 vor der letzten Parlamentswahl der Abhaltung eines EU-Referendums zugestimmt hat.

Ende der Solidaritätsfortschritte?

Es stimmt ja: Sowohl die (von den Briten massiv mitbetriebene) Globalisierung der letzten Jahrzehnte hat kaum Vorteile für die normalen Bürger gebracht, die Einkommensverteilung hat sich massiv verschlechtert, die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik hat sich stärker an den gut Verdienenden als an den Benachteiligten orientiert, die einstmals stolze britische Industrie hat man zugunsten der Schimäre einer hochproduktiven, allen Vorteile bringenden Finanzindustrie vernachlässigt und verächtlich gemacht. Und darauf haben die Briten reagiert: nicht nur – aber wohl auch – gegen die EU, sondern gegen die allgemeinen sozialen Verhältnisse, gegen die Auflösung der alten Sicherheiten, gegen die Zumutungen einer globalisierten Welt, gegen die Vernachlässigung der materiellen und sozialen Infrastruktur, gegen die Arroganz und Ignoranz der Regierenden. Und damit stehen die Briten nicht allein da.

Das Dilemma ist aber doppelt groß: Der erstmalige Austritt eines Landes aus der EU bedeutet symbolisch und real einen gewaltigen Rückschritt gegenüber der über Jahrzehnte erfolgten langsamen Aufhebung von Staatsgrenzen in Europa und dem schrittweisen Aufbau eines Europabewusstseins; und er bedeutet zweitens, dass mit der Brexit-Entscheidung nicht nur die Briten, sondern ganz Europa sich einen Elefanten in ihren ohnedies fragilen Porzellanladen gesetzt haben. Die Austrittsverhandlungen und sicher mehr noch die Verhandlungen um die künftige Gestaltung der Beziehung zwischen Britannien und der EU werden riesige menschliche und institutionelle Ressourcen auf lange Zeit binden. Gerade zu einer Zeit, in der es so viele andere Herausforderungen gibt: die Kriege im Nahen Osten, den Zerfall ganzer Länder in der arabischen Welt, die afrikanische und asiatische Massenmigration, den Klimawandel, die sozialen Verwerfungen durch die Globalisierung, die die Armen in den weniger entwickelten Ländern und die Mittelklasse in den entwickelten Ländern massiv benachteiligt hat, die Unfähigkeit der demokratisch gewählten Regierungen, ihren Bürgern Zukunftszuversicht zu geben, die massive Zunahme populistischer, fremdenfeindlicher, ja rassistischer Bewegungen, die das Zurück zum ethnisch definierten Nationalstaat propagieren. Um all das sollten sich Bevölkerungen und Regierungen raschest kümmern. Stattdessen wird ihnen eine (unnötige) endlose und Zwist verstärkende Brexit-Verhandlung oktroyiert, die Europa in einen Strudel hineinziehen kann, der in Abschottung, Kleinstaaterei und vor allem ein gegensolidarisches "Ich gegen die"-Gefühl Platz geraten lässt.

Damit ist der Brexit viel mehr als eine Abkehr von einem europäischen Bundesstaat. Er ist die Abwendung von einer globalen Gemeinschaftsidee, die Wiedererstarkung des Nationalismus. Er ist eine politische viel mehr als eine ökonomische Katastrophe. Ausgerechnet das England Churchills folgt der Richtung Putins, Orbáns, der katalanischen Nationalisten und vieler anderer. Zwar ist Britannien der sichtbarste Anlass, aber die Verantwortung für diese Entwicklung liegt auch bei den europäischen Staatsführungen: Sie haben die Zeichen an der Wand nicht erkennen wollen und stehen jetzt vor einem Scherbenhaufen. Armes Europa! (Kurt Bayer, 29.12.2016)