Ian McDonald: "Luna"
Broschiert, 511 Seiten, € 15,50, Heyne 2016 (Original: "Luna: New Moon", 2015)
Im Lauf der Zeit gewöhnt man es sich an, Blurbs ungefähr so zu lesen: "blablabla [dieses Buch hat mir sehr gefallen, was ich dadurch ausdrücke, dass ich zum Vergleich irgendeinen möglichst bekannten und erfolgreichen Titel an den Haaren herbeiziehe] blablabla". Da ist man dann ehrlich überrascht, wenn sich nachträglich herausstellt, dass einer von diesen beiläufig überflogenen Lobessätzen die Sache tatsächlich auf den Punkt gebracht hat. Wie der auf der Rückseite dieses Buchs: "Luna" ist für die Science Fiction, was "Game of Thrones" für die Fantasy ist.
... nämlich eine Soap Opera. Genauer gesagt eine komplexe Seifenoper mit großem Personal und vor in jeder Beziehung fantastischem Hintergrund. Mit subtiler Ironie charakterisiert Ian McDonald seinen Roman in einer Passage selbst – dann nämlich, wenn eine seiner Figuren in einem Zug über die Oberfläche des Mondes rattert und sich nebenbei eine Telenovela reinzieht: Liebe, Verrat und Rivalität in der Elite. Genau das ist "Luna" – und bietet damit grandiose Unterhaltung.
Das Szenario
Wir befinden uns im letzten Drittel des 21. Jahrhunderts. Der kolonisierte Erdmond dient dem Abbau von Bodenschätzen und wird bereits von über einer Million Menschen bewohnt. Fünf große Familien – die Fünf Drachen – haben ihn sich de facto untereinander aufgeteilt. Sie stammen aus Australien, China, Ghana, Russland und Brasilien und gehen auf jene Pioniere zurück, die vor Jahrzehnten als Erste das Potenzial des Mondes erkannt hatten.
Man beachte das Fehlen der USA und Westeuropas! Ian McDonald, der mit vermeintlich peripheren Schauplätzen wie Indien ("Cyberabad"), Istanbul ("The Dervish House") oder Afrika ("Chaga") gezielt seine ganz eigene SF-Linie entwickelt hat, ist dieser also treu geblieben. Auch im fast schon fantasyesken Setting des Mondes spielt "der Westen" in der nahen Zukunft nicht mehr die Hauptrolle. Und wie schon in früheren Werken spiegelt sich das auch in der Sprache des Romans wider, die zahlreiche Lehnwörter unter anderem aus dem Brasilianisch-Portugiesischen, dem Koreanischen und verschiedenen westafrikanischen Sprachen enthält. (Am Endes des Buchs gibt es ein Glossar.)
Der lebendigste Mond aller Zeiten
Im Kontrast zur Ödnis des Mondes selbst, dessen Tödlichkeit uns immer wieder in Erinnerung gerufen wird, steht eine ganze Reihe fantasievoll beschriebener Habitate, von denen keines dem anderen gleicht. Boa Vista beispielsweise, der Sitz der Familie Corta, ist in einer Lavaröhre aus der Frühzeit des Mondes angelegt und präsentiert sich uns als grüne Oase, in der sich zwischen Wasserfällen und 100 Meter hohen Statuen von (westafrikanischen) Orisha-Göttern Gärten annähernd schwerelos in die Vertikale emporziehen.
In der betonten Unterschiedlichkeit der Habitate – jeweils auf den Charakter der einzelnen Familien zugeschnitten – steckt erkennbar eine ganze Menge Konstruktion. Das wirkt fast wie in einem Game-Design. Andere Ideen lassen diesen Eindruck aber rasch wieder vergessen und füllen den Roman wirklich mit Leben. Ob es nun ein senkrechter Fahrrad-Parcours durch die Mondarchitektur oder eine surreal anmutende Laufveranstaltung unter Trommelklängen ist: Der Mond hat längst seine ganz eigene Kultur entwickelt. So lebendig und vielfältig wie hier ist eine Mondkolonie vermutlich noch nie beschrieben worden.
Der lunare Adel
Etwas überraschend mutet zunächst McDonalds Entscheidung für das scheinbar aus der Zeit gefallene Feudalsystem an, das die Fünf Drachen auf dem Mond etabliert haben. Einhergehend mit einer archaischen Gesetzgebung, die so etwas wie Rechte – auch Menschenrechte – genau genommen gar nicht kennt. Hier wird alles über Verträge geregelt, inklusive der Versorgung mit den vier Grundressourcen Luft, Wasser, Kohlenstoff und Daten (wer seine Sauerstoffschulden nicht tilgen kann, erstickt eben und wird anschließend recycelt). Konflikten versuchen die Fünf Drachen durch dynastische Eheschließungen vorzubeugen – ob homo- oder heterosexuell, spielt dabei keine Rolle. Sex in jeder Variante ist in "Luna" übrigens für einen SF-Roman ungewöhnlich stark präsent. Sehr TV-Soap-kompatibel aber! Kein Wunder, dass CBS sich schon die Rechte für eine etwaige Verfilmung gesichert hat.
Helfen präventive Maßnahmen nichts, duelliert man sich – und zwar in Messer- und Fechtkämpfen. Dass auf Schusswaffen angesichts der Gefahr eines Druckabfalls verzichtet wird, ist eigentlich nur logisch. Es verstärkt aber noch das Feeling, sich in einer eigentümlichen Mischung aus SF-, Fantasy- und Historienroman zu befinden. Fast könnte man glauben, McDonald, der doch stets Wert auf die politischen Aspekte seiner Romane gelegt hat, wäre hier, von der Pracht der eigenen Schöpfung berauscht, ein wenig abgehoben. Aber das ist nicht der Fall, wie uns unter anderem Flashback-Kapitel über das Leben auf der Erde zeigen. Die bringen die Vergangenheit der Romanfiguren – und damit unsere Gegenwart – treffsicher auf den Punkt:
"Damals wusste ich nicht, dass Lyoto eines der ersten Opfer im Klassenkampf war. Im großen, im letzten Krieg der Klassen: der Aushöhlung der Mittelschicht. (...) Früher hatten wir gedacht, dass sich die Roboterapokalypse mit Heeren von Killerdrohnen, Kriegsmechs in der Größe von Wohnhäusern und Terminatoren mit roten Augen abspielen würde. Nicht in Form von mechanisierten Supermarktkassen und Tankstellen, Onlinebanking, selbst fahrenden Taxis und einem automatisierten Aufnahmeverfahren im Krankenhaus. Einer nach dem anderen kamen die Bots und ersetzten uns."
Main Cast
Wie bei jeder anständigen Soap wird auch hier mit umfangreichem Personal gearbeitet. Abgesehen von der Außenseiterin Marina Calazghe, die uns als Angehörige der arbeitenden Normalbevölkerung vorgestellt wird, stammen die wichtigsten ProtagonistInnen alle aus der Familie Corta: Etwa Matriarchin Adriana, die mit ihrer Entschlossenheit ihre Familie überhaupt erst zum "Drachen" gemacht hat. Ihr Sohn Luca, der es nicht ertragen kann, als Zweitgeborener immer hinter seinem Bruder Rafa zurückstehen zu müssen, obwohl er vom Geschäft viel mehr versteht. Oder Tochter Ariel, eine gerissene Anwältin und eifrige Anhängerin der Autoerotik.
Enkel Lucasinho wiederum ist ein Edelrebell, der wie ein Schmetterling von Bett zu Bett hüpft und sich nicht groß darum schert, wer darin liegt. Und dann ist da noch der jüngste Sohn Wagner, dessen Besonderheit in weiteren Bänden noch eine größere Rolle spielen dürfte: Als Wolf fühlt er eine ähnlich innige Beziehung zum Erdball am Himmel wie ein klassischer Werwolf zum Mond. Und tatsächlich könnten die Wölfe einen neuen Zweig der Evolution verkörpern – so gibt es etwa Anzeichen dafür, dass sie im Rudel eine Gemeinschaftsintelligenz bilden.
Fortsetzung folgt
All diese Figuren (und andere) lernen wir mit ihren Ambitionen und Problemen, ihren Lieb- und Leidenschaften kennen. McDonald springt dabei im Schnelltakt von einem Protagonisten zum anderen – wenn George R. R. Martins "Lied von Eis und Feuer" in Sachen Schnittfolge "Das Haus am Eaton Place" war, dann ist "Luna" "Downton Abbey". Im ersten Drittel wird man daher zunächst einige Mühe haben, sich zu orientieren. Aber keine Angst: Man findet sich ein. Und wird die einzelnen Figuren liebgewinnen und es gar nicht mehr abwarten können, wie es mit ihnen weiter (oder zu Ende) gehen wird, wenn der schwelende Konflikt zwischen den Drachen schließlich eskaliert.
"Luna" gipfelt in einem Finale, das dem der letzten "Game of Thrones"-Staffel gar nicht so unähnlich ist. Zum Glück müssen wir auf die Fortsetzung aber nicht lange warten: "Luna: Wolf Moon" soll Ende März auf Englisch und schon im Mai auch auf Deutsch erscheinen.