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"Man darf sich freuen in den Social Media, man darf sich selbst bejubeln, aber wenn man angibt, traurig zu sein, macht man sich verdächtig."

Foto: REUTERS/Leonhard Foeger / Montage: Der Binder

Als vor zwei Jahren mein Vater starb, erzählte mir meine Großtante, die älteste lebende Verwandte, eine Geschichte von früher. Das war ungewöhnlich. Denn sie lebte eigentlich sehr im Jetzt. Sie hatte es nicht so mit früher. Nostalgisch, sagte sie, sind nur die Menschen, die gerne ins Familienalbum schauen. Wenn sie die Fotos von früher betrachtete, sah sie Kinder, die unterernährt gewesen waren und die an Krankheiten gestorben waren, für die man heute mit dem richtigen Antibiotikum gerade einmal eine Woche krankgeschrieben wird. Aber als der Tod meines Vaters schon drei Monate zurücklag und ich noch immer damit haderte, nicht arbeiten und nicht schlafen konnte und mich im Alltag nicht zurechtfand, da erzählte sie mir von einem alten Brauch auf dem Land, den sie als Kind noch erlebt hatte.

Wenn damals im Dorf ein Mensch gestorben war, dann trugen die engsten Angehörigen ein schwarzes Band um den Oberarm. Ursprünglich aus Not, weil weder die Frauen noch die Männer, die auf dem Feld oder in den Ställen arbeiteten, über mehr als ein schwarzes Kleidungsstück verfügten. Die dunklen Anzüge der Männer und die schwarzen Kleider der Frauen wurden für Begräbnisse gehütet und waren im Arbeitsalltag unpraktisch. Also nahmen sie eine Stoffschleife und trugen sie für ein Jahr, das Trauerjahr.

So wussten alle, die ihnen begegneten, in der Kirche, bei der Arbeit, abends auf dem Heimweg, dass diese Menschen trauerten. Dass man nicht zu viel von ihnen erwarten durfte, dass sie nur zur Hälfte im Hier und Jetzt waren. Denn der andere Teil von ihnen pendelte zwischen dem Drüben und dem Diesseits. Dieses Bild der schwarzen Stoffschleife kramte sie für mich aus ihren Erinnerungen. Du brauchst noch neun Monate, sagte sie, bis du wieder da bist. So lange, wie du gebraucht hast, um diese Welt zu betreten. Und sie sollte recht behalten.

Erfunden oder nicht

Ich weiß bis heute nicht, ob meine Großtante die Geschichte von den schwarzen Stoffbändern nur erfunden hat oder ob sie tatsächlich so stattgefunden hat. Es ist niemand mehr da von damals aus dem Dorf, den ich fragen könnte. Aber ich wünsche mir manchmal, dass es wahr ist und dass dieser Brauch wieder Teil unserer Alltagsrituale wird.

Nicht nur auf dem Fußballfeld, wenn eine Mannschaft Trauer trägt, weil ein ehemaliger Spieler verstorben ist oder noch schlimmer: einer von ihnen, sondern auch im Coworking-Space, in der Bar ums Eck, in der Straßenbahn. So wüsste man, dass der andere etwas verloren hat. Dass man behutsam mit ihm umgehen muss. Und seinen Schmerz respektieren. So wüsste man mehr voneinander, davon, wie es um den anderen steht. Denn was weiß man schon über ihn, wenn man sich täglich auf Facebook sieht?

Erinnerungen

Im abgelaufenen Jahr sind gefühlt überdurchschnittlich viele Schauspieler, Musiker und Geschichtenerzähler für immer gegangen, die untrennbar mit der Kindheit und Jugend vieler verbunden waren. Den Soundtrack zum ersten Kuss geliefert haben, zum ersten Liebeskummer, zur ersten Reise mit dem eigenen Auto in die Welt jenseits des Jugendzimmers. Die Erinnerung daran und gleichzeitig das Gefühl, dass durch den Tod dieses Menschen, den man nie gekannt hat, der aber trotzdem ein bisschen zur Familie gehört hat all die Jahre, haben viele bedrückt. Und sie zeigten ihre Trauer offen. Sie teilten auf Facebook und Twitter Anekdoten, die sie mit dem Verstorbenen verbinden. Sie posteten weinende Emojis, sie zeigten, dass sie gerührt waren. Und ernteten dafür Skepsis, Häme und manchmal Spott.

Man darf sich freuen in den Social Media, man darf sich selbst bejubeln, aber wenn man angibt, traurig zu sein, macht man sich verdächtig. Man muss Belehrungen über sich ergehen lassen, Misstrauen ob der Wahrhaftigkeit seiner Gefühle, kritische Fragen, Kopfschütteln und Verachtung. Die Opfer von schrecklichen Katastrophen, von Krieg und Hungersnöten werden einem vorgehalten, deren unvorstellbares Leid mit der eigenen, vergleichsweise privilegierten Situation verglichen. Man soll sich schämen für seine Trauer. Dabei weiß niemand, wie es in einem aussieht. Ob man nicht schon lange trauert, ob man nicht innerlich ein schwarzes Band trägt, weil man nicht weiterweiß, weil ein anderer Verlust einen nicht schlafen lässt und der Tod eines Fremden, der Teil der Erinnerungen ist, ebendiese Trauer verstärkt hat.

Der Tod ist nicht mehr zeitgemäß. Wir lassen uns coachen und optimieren unser Selbst oder besser gesagt all das, was davon zu sehen ist. Wir vervielfältigen unser Ich in den Social Media, und wenn es uns mehrfach gibt, in Bild und Ton, auf Instagram und Facebook, auf Twitter und Whatsapp, wie kann es uns dann irgendwann plötzlich nicht mehr geben? Der Tod hat keine Lobby in diesem Kaleidoskop der Eitelkeit, in dieser endlosen Ich-Erzählung, die selbst dann jeden Tag Statusmeldungen produziert, wenn es eigentlich gar nichts zu erzählen gibt.

2016 hat uns der Tod öfter, als es uns lieb war, dabei unterbrochen, unseren Stream aus Urlaubsfotos, Essensbildern, Trinkgelagen und Erfolgsmeldungen aufrechtzuerhalten. Wir kommunizieren online zu jeder Tages- und Nachtzeit, wir freunden uns mit Fremden an, wir begleiten ihr Leben und sie unseres, selbst bei Familienfeiern hängen wir am Handy, um das Grundrauschen des gegenseitigen Austausches lauter zu machen, um unsere Stimme im Summen des Schwarms zu behalten.

Aber was tun wir, wenn es plötzlich still wird? (Barbara Kaufmann, 30.12.2016)