Vor kurzem hat der ORF die Filmtrilogie Wohin und zurück wiederholt, in der Axel Corti und Georg Stefan Troller das leidvolle Schicksal zahlloser jüdischer Wiener Flüchtlinge in eine fesselnde Story umgesetzt haben. Wer glaubt, dass sich Corti und Troller bei der Darstellung des Elends und der Demütigungen der Flucht vor den Nazis möglicherweise "dichterische Freiheiten" erlaubt haben, dem erteilt das Buch des Historikers Oskar Achs Zwischen Gestern und Morgen eine ernüchternde Lektion: Es war so schlimm. Dabei war das Ehepaar, dessen Flucht aus Wien, Exil in Paris, abermalige Flucht nach Südfrankreich und über die Pyrenäen, Internierung in Spanien, Weiterreise nach Lissabon, Exil in den USA und schließliche Rückkehr nach Wien den Handlungsrahmen dieser wohlrecherchierten und mit faszinierenden Dokumenten angereicherten Studie abgibt, nicht irgendjemand.
Aline und Carl Furtmüller waren im "Roten Wien" nach dem Ersten Weltkrieg ein sozialdemokratisches "Power-Couple": sie eine der ersten weiblichen Abgeordneten im Wiener Gemeinderat, er eine Schlüsselfigur der Wiener Schulreform. Der 1880 geborene Carl Furtmüller gehörte zur raren Spezies des hochgebildeten "humanistischen" Sozialisten. Aus einer einfachen Angestelltenfamilie stammend absolvierte er mit Auszeichnung das elitäre, von den Benediktinern geführte Wiener Schottengymnasium, studierte an der Universität Wien Latein, Griechisch, Germanistik und Französisch, begann eine Karriere als k. k. Gymnasialprofessor in der böhmischen Provinz und übersiedelte schließlich – nach zahlreichen erfolglosen Versetzungsgesuchen – nach Wien. Hier mauserte sich Furtmüller vom Lateinlehrer zu einem vielseitigen Intellektuellen und unermüdlichen Netzwerker.
Schon als Student trat er in den Sozialwissenschaftlichen Bildungsverein ein, ein linkes Forum, in dem austromarxistische Politiker, Sozialphilosophen, Psychologen und Pädagogen zusammentrafen und prominente Zeitgenossen wie Otto Bauer, Rosa Mayreder, Karl Renner und Sigmund Freud auftraten. Als Mitglied von Sigmund Freuds Mittwoch-Gesellschaft hatte Furtmüller entscheidenden Anteil am Adler-Freud-Konflikt; er unterstützte mit Engagement die (von Freud heftig abgelehnte) individualpsychologische Position Alfred Adlers, trat mit diesem – "von Freud exkommuniziert" – aus der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung aus und wurde an der Seite Adlers zu einem der Mitbegründer der Individualpsychologie.
"Fi-Fa-Fu"-Triumvirat
Für die Wiener und darüber hinaus österreichische Schulgeschichte ist Carl Furtmüller von besonderer Bedeutung als "Fu" des von der Wiener Lehrerschaft scherzhaft mit der Abkürzung "Fi-Fa-Fu" bedachten Triumvirats Hans Fischl, Viktor Fadrus und C. F. Unterrichtsminister Otto Glöckel berief 1919 diese drei sozialwissenschaftlich geschulten und mit den Problemen des Schulwesens bestens vertrauten "Macher" in die Reformabteilung des Ministeriums. Nach der Bestellung Glöckels zum Präsidenten des Wiener Stadtschulrats holte er dieses Team an seine neue Wirkungsstätte. Furtmüller war das Mastermind der zwischen 1922 und 1927 in Angriff genommenen Reformen, deren zentrales Anliegen die Einführung einer gemeinsamen Mittelschule war.
Dass aus diesen damals europaweit vielbeachteten Schulversuchen, bei denen Furtmüller und Co auch die Erneuerung des Unterrichts, die Reform der Lehrerbildung und die Einbeziehung der Elternschaft mitbedachten, 1927 schließlich doch bloß eine Hauptschulreform wurde, hat mehrere Gründe: die zunehmende Feindseligkeit zwischen den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten, die Ablehnung der Reform durch die katholische Kirche und die bürgerliche Presse sowie die erbitterte Gegnerschaft der um einen Statusverlust besorgten Gymnasiallehrerschaft. (Es ist durchaus zulässig, in diesem Zusammenhang an das Schicksal der Gesamtschulversuche der 1970er-Jahre und den Schulversuch Neue Mittelschule zu denken, die ebenfalls de facto Hauptschulreformen blieben und nichts an der Selektion mit zehn Jahren und der Zweigliedrigkeit der Sekundarstufe I änderten.)
Säuberung des Stadtschulrates
Es entbehrt nicht einer gewissen Tragikomik, dass es das Dollfuß-Regime im Februar 1934 mit der Säuberung des Wiener Stadtschulrates so eilig hatte, dass man für die Zustellung der Enthebungsdekrete an Fi-Fa-Fu in der Nacht zum 15. Februar in Ermangelung anderer Fahrzeuge Feuerwehrautos verwendete.
Nach dem Anschluss an Hitlerdeutschland wurde die Situation der Furtmüllers immer unerträglicher. Alina, die aus einer russisch-jüdischen Exilantenfamilie stammte, galt, obwohl zum Protestantismus übergetreten, als "Volljüdin", Carl, als Sohn einer konvertierten jüdischen Mutter als "Halbjude". Wenngleich die Furtmüllers von in Paris lebenden Freunden wie Otto Leichter und sozialdemokratischen Exilantenorganisationen unterstützt wurden, war ihre Flucht durch Europa dennoch überaus beschwerlich. Aber selbst als von Entbehrungen und Krankheit geplagter Exilant konnte der Intellektuelle Furtmüller nicht anders, als seine Gedanken über Faschismus, Antisemitismus und Widerstand niederzuschreiben und in der Pariser Exilzeitschrift Der sozialistische Kampf zu veröffentlichen.
Im amerikanischen Exil hatte er es angesichts seiner spärlichen Englischkenntnisse – nicht vorhersehbare Spätfolge seines Studiums der klassischen Philologie und Romanistik – nicht leicht, beruflich Fuß zu fassen. Nach einem Zwischenspiel als Lagerarbeiter und Lateinlehrer an einer Quäkerschule gelang es ihm wie seinen Freunden Hans Fischl und Otto Leichter, eine Anstellung im US Office of War Information zu ergattern, das Regierungsstellen und Einrichtungen wie die Voice of America mit Informationen und Propaganda versorgte.
Nicht reif für Aufbruch
Gleichzeitig erarbeitete Furtmüller, für den das Ende des Naziregimes nie in Zweifel stand, eine seiner bedeutsamsten, wenngleich, wie Oskar Achs kritisch anmerkt, von der Exilforschung und Nachkriegspädagogik unbeachteten Publikationen: den 1943 in der Austrian Labor Information erschienenen Artikel mit dem Titel Erziehung – ein zentrales Nachkriegsproblem, in dem er sich mit den Problemen der "Rückerziehung zur Demokratie" und der Entnazifizierung Österreichs und seiner Schulen auseinandersetzte.
Staatskanzler Renner beantwortete den Brief, in dem Furtmüller im Herbst 1945 von New York aus dezent anfragte, "ob Ihr mich drüben brauchen könnt", im Retourschreiben mit der freundlichen Anrede "Lieber Freund Furtus". Es dauerte dann aber noch bis April 1947, dass er nach Wien zurückkehren und seine Berufskarriere als Direktor des Pädagogischen Instituts der Stadt Wien beenden konnte.
Als Altphilologe war Furtmüller vertraut mit dem griechischen Begriff "Kairos" – dem rechten Zeitpunkt. Für seine in der Aufbruchsstimmung nach dem Ende der Monarchie entwickelten Visionen einer sozial fairen, demokratischen Schule war in den Jahren nach 1945 die Zeit offensichtlich nicht reif; man war vorrangig bemüht, den ideologischen Schutt des Austrofaschismus und der Nazizeit zu beseitigen. Was ihn allerdings am gegenwärtigen bildungspolitischen Status quo befremden würde, ist der Umstand, dass in Österreich auch nach siebzig Jahren Demokratie der Zeitpunkt für eine richtige Gesamtschulreform noch immer nicht gekommen zu sein scheint. (Karl Heinz Gruber, 31.12.2016)