Er saß an seinem Tisch in der kahlen Kammer und schrieb um sein Leben.
Wort für Wort, Zeile um Zeile brachte er hastig zu Papier, doch zwischen den Sätzen verrann die Zeit. Er schrieb im Schein der flackernden Kerze, denn die Nacht war längst angebrochen. Und mit jeder Minute, die verging, wurde ihm eindringlicher bewusst, dass er sein Versprechen nicht halten können würde.

Eine drakonische Strafe

Er war ein einfacher Mönch und hatte durch Unachtsamkeit die strengen Ordensregeln des Klosters missachtet. Ein kleiner Fehltritt eigentlich, der rasch vergessen war. Dass der Abt daher eine derart drakonische Strafe verhängen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Ein Verstoß gegen die Vorschriften des Benediktinerordens musste geahndet werden, doch der Abt griff zur härtesten aller denkbaren Strafen: Morgen würden sie ihn bei lebendigem Leib einmauern.

Er hatte um sein Leben gebettelt, Versprechen gemacht, gefleht, doch der Abt war ein gestrenger Herr. So hatte der namenlose Mönch, der sein Leben in klösterlicher Stille mit dem Studium der Wissenschaften verbracht hatte, in höchster Verzweiflung einen Schwur getan. Er würde zur Ehre des Ordens und des Klosters ein Buch schreiben, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. Das gewaltige Werk sollte das gesammelte Wissen der Menschheit enthalten und er würde es in einem einzigen Tag fertigstellen.

Der Abt überlegte, doch dann willigte er ein. Er gewährte dem Mönch genau einen Tag, an dem er sein Buch vollenden sollte. 24 Stunden Aufschub, nicht mehr. Er musste das Buch in diesem einzigen Tag fertigstellen, ansonsten würde die todbringende Strafe unausweichlich exekutiert. Ein wahnwitziges Unterfangen, von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Er schrieb und schrieb, doch Mitternacht war nahe. Nein, er konnte das Werk nicht vollenden. Sie würden kommen und die Mauer errichten. Es gab kein Entkommen.

Der Teufel als Helfer in der Not

Da fiel der Mönch in tiefster Verzweiflung auf die Knie, hob die Hände und betete um Hilfe. Doch nicht seinen Gott rief er an, er flehte den gefallenen Engel Luzifer an, ihm in höchster Not beizustehen – im Tausch für seine Seele. Und es geschah. Der leibhaftige Satan erhörte das Flehen des Mönches, eilte herbei, und in Windeseile war das gigantische Werk vollendet. Doch auf einer der Seiten ließ sich der Teufel als wahrer Urheber des Werkes verewigen. Ein Bild zeigt den Leibhaftigen in seiner schaurigen Gestalt. Das Leben des Mönchs war gerettet, aber seine Seele hatte er durch den teuflischen Pakt für immer den dunklen Mächten verschrieben …

Foto: National Library of Sweden [cc;4.0;by]

Das ist die Geschichte eines der erstaunlichsten Bücher, die jemals geschrieben wurden. Der Codex Gigas (griechisch für "riesig") entstand zu Beginn des 13. Jahrhunderts und ist tatsächlich ein Buch mit gigantischen Ausmaßen. Mit 92 Zentimeter Höhe, 50 Zentimeter Breite und 22 Zentimeter Dicke ist er das größte bekannte mittelalterliche Manuskript. Die gewaltigen Ausmaße des Codex ergeben ein Gesamtgewicht von annähernd 75 Kilogramm. Er besteht heute aus 310 Pergament- und zwei Papierblättern. Acht weitere Blätter fehlen. Aus welchem Grund diese Blätter entfernt wurden, ist unbekannt. Das Buch entstand vermutlich im böhmischen Benediktinerkloster Podlažice und wurde, wie Schriftanalysen zeigen, wohl tatsächlich von einem einzigen Menschen verfasst. Das Verfassen der Texte dürfte aber an die fünf Jahre gedauert haben.

Foto: National Library of Sweden [cc;4.0;by]

Das Buch enthält neben dem kompletten Text der Bibel verschiedene weitere Traktate zur Geschichte, Physiologie und Etymologie, aber auch eine Liste von Brüdern des Klosters, einen Kalender, Erzählungen von Wundern und andere lokale Aufzeichnungen. Die wohl bekannteste Seite des Codex zeigt das etwa 50 Zentimeter hohe Bild des Teufels. Auf einigen Seiten davor und danach ist der Text zweispaltig auf dunklem Hintergrund in heller Schrift ausgeführt – ein deutlicher Unterschied zu den restlichen Seiten. Der tatsächliche Verfasser des Buches bleibt bis heute unbekannt. Die Übersetzung der vermutlichen Urhebererwähnung hermanus inclusus als "eingeschlossener Hermann" ist mit Sicherheit unrichtig. Die Worte weisen vermutlich auf einen einsiedlerisch lebenden Mönch hin.

Heute befindet sich der Codex Gigas in der schwedischen Nationalbibliothek. Eine digitalisierte Fassung des Codex Gigas kann online durchgeblättert werden (auf Seite 577 finden Sie das grauenhafte Antlitz des Teufels). (Kurt Tutschek, 28.2.2017)

Foto: Michal Manas [cc;2.5;by]

Bildquellen