Das neue Jahr hat begonnen, wie das alte aufgehört hat: mit einem Anschlag in Europa. Dutzende Menschen wurden verletzt oder getötet. Mit Istanbul stieg die Erinnerung an die Bilder der Terrorattentate von Paris, Brüssel, Nizza, Ankara, Berlin wieder auf.

Wer dieser Tage in Graz ist, kann sehen, was politisch die Hauptthemen bleiben – die FPÖ hat die Stadt mit Plakaten für die Gemeinderatswahl im Februar überschwemmt, mit nur einer Botschaft: "Fremd sein in der eigenen Stadt, im Park, in der eigenen Schule – wir wollen unser Graz zurück! Mehr Sicherheit." Soll heißen: Ausländer raus! Flüchtlinge raus! Raus aus der EU! Grenzen dicht! Mir san mir, national und sozial nur für Inländer! Damit verheeren Rechtspopulisten ganz Europa.

In Moskau lacht sich Präsident Wladimir Putin ins Fäustchen. Er setzte durch einen Deal mit dem nicht weniger autoritären türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan auch in Syrien seinen Willen durch. Zudem demonstrierte er, wie locker er mit den USA Katz und Maus spielt. Auf Sanktionen von Nochpräsident Barack Obama wegen eines (nicht bewiesenen) Spionageangriffs im US-Wahlkampf antwortete er mit: Ignorieren! Er warte auf den Neuen, Donald Trump.

Istanbul, Graz, Russland, Türkei, die USA: Was hat das mit der EU zu tun? Das sind doch örtlich und politisch weit voneinander entfernte Ereignisse. Man soll sich nicht täuschen. Sie stehen für eine Problemlage, die die Handlungsmöglichkeiten in Europa 2017 bestimmen wird: Krieg in Syrien, weitere Flüchtlingsströme, illegale Migration aus Afrika, Terror durch Islamisten. Der Rahmen der machtpolitischen Kräfteverteilung in der Welt wird sich verändern, vor allem durch Trumps angekündigten Rückzug der USA ("America first") und die Reaktionen Russlands, Chinas, der Türkei darauf.

Die Europäer haben da nicht viel zu bieten. In vielen EU-Ländern, die sich wirtschaftlich nach wie vor nur langsam erholen, steigen soziale Spannungen. Populistische Parteien nutzten das bei Wahlen seit Jahren; in Griechenland, Spanien, Italien, Portugal die Linke. 2017 dürften die Rechtspopulisten ihre Siegestour fortsetzen.

Als wäre das nicht genug, kommen die Unsicherheiten des Brexit dazu. London hat keine glaubhafte Strategie, wie es sich den EU-Austritt vorstellt. Die EU-27 wissen nicht, wie sie allein weitermachen. Die Fülle der Probleme macht verständlich, warum viele jetzt einen "Neustart" der EU beschwören.

Aber was soll das sein außer Illusionen? Die Welt ist keine Modelleisenbahn. Eine "bessere EU" lässt sich nicht einfach zusammenbasteln. Die Europäer müssen realistisch bleiben, sich auf das besinnen, was die Union stets zusammengehalten hat: maßvolle, kluge Kooperation, wechselseitiges Nachgeben, zähes Ringen, Schritt für Schritt, Kompromiss. Das bringt keine spektakulären Erfolge, trifft aber das Bedürfnis der großen Mehrheit der Bevölkerung in den Nationen.

Der Schlüssel zum Weg aus der Krise liegt in Frankreich und Deutschland, wo 2017 Wahlen stattfinden. Sie haben die EU von jeher gestaltet, aber auch getragen. So sehr es auch rumpelt: Die Rechtspopulisten werden nicht an die Macht kommen.

Das gilt auch für Marine Le Pen. Sie hat gute Chancen, in die Stichwahl zu kommen wie 2002 ihr Vater Jean-Marie, sie wird aber wohl kaum Präsidentin werden. Ein Norbert-Hofer-Schicksal. Bleiben Berlin und Paris stabil, kann es auch in der EU wieder weitergehen. Schwere Zeiten also, aber kein Grund für totalen Pessimismus. (Thomas Mayer, 1.1.2017)