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Foto: GAUMONT / Mary Evans / picturedesk.com

Metropolis. New Crobuzon. Trantor. Das Los Angeles aus "Blade Runner" und das New York in "Das fünfte Element". Die Schachtstadt in den "Incal"-Comics von Moebius. Und als größte von allen Coruscant, die galaktische Hauptstadt in den "Star Wars"-Filmen, die sich über die Oberfläche eines ganzen Planeten erstreckt.

Ob Film oder Literatur, die Science Fiction ist voll von Megastädten. Ihre fiktiven Standorte können tausende Lichtjahre und ganze Zeitalter voneinander entfernt sein. Doch betrachtet man sie genauer, sehen sie einander verblüffend ähnlich – siehe den Vergleich der Szenenfotos aus "Das fünfte Element" und "Metropolis" weiter unten: 70 Jahre liegen zwischen den beiden Filmen, aber das Bild von der Stadt der Zukunft ist im Kern gleich geblieben.

Es lebe die Vertikale! Der Trailer zu einer leider nie zustandegekommenen Verfilmung von Moebius' "Incal"-Reihe.
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Häufig soll die Stadt nur eine spektakuläre Kulisse für die eigentliche Handlung abgeben (und im Bedarfsfall noch spektakulärer in sich zusammenstürzen). Wird sie hingegen selbst zum Thema, geschieht dies meist in einem negativen Kontext: die Stadt als Ort der Entfremdung und der sozialen Konflikte, ein Ressourcen und Menschen verschlingender Moloch.

Der US-amerikanische Stadtforscher Carl Abbott, ein glühender Science-Fiction-Fan, sieht in der vor allem amerikanisch geprägten westlichen SF-Literatur einen starken Hang zum Antiurbanismus – parallel zur architektonischen Gigantophilie, was etwas paradox erscheint.

Gernsbacksche Visionen

In der gut eineinhalb Jahrhunderte umfassenden Geschichte des Science-Fiction-Genres gab es zwar auch – den jeweiligen Zeitgeist widerspiegelnd – Phasen, in denen die Stadt als Symbol der Moderne und des technischen Fortschritts zu Ehren kam. Doch können die Träume einer Generation rasch zu den Albträumen der nächsten werden. 1981 veröffentlichte US-Autor William Gibson, Gründervater des Cyberpunk, die Erzählung "Das Gernsback-Kontinuum", deren Protagonist einen Realitätsbruch erleidet.

In einem Tagtraum sieht er städtebauliche Visionen des frühen 20. Jahrhunderts im Geiste des Techno-Visionärs und SF-Pioniers Hugo Gernsback Gestalt annehmen: majestätische Türme und Zikkurats, durch Hochbahnen verbunden und von kilometerlangen Luftschiffen umkreist. Er stellt sich lichtdurchflutete Straßen voller edler Menschen vor, die mit stolzglühenden Augen auf ihre technologische Schöpfung sehen, und wendet sich angeekelt ab: "Es war so unheilverkündend und schmalzig wie Hitlerjugend-Propaganda."

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Links das New York des 23. Jahrhunderts aus Luc Bessons "Das fünfte Element", rechts Fritz Langs "Metropolis" aus dem Jahr 1927. 70 Jahre liegen zwischen diesen beiden Filmszenen, und doch ähneln sie einander verblüffend. Die Stadt der Zukunft ist offenbar recht konstant – oder zumindest unser Bild von ihr: himmelhohe Gebäude, zwischen denen herumgeflogen wird. Stadtforscher Carl Abbott nennt diesen Klischee-Typus "Techno City".
Fotos: Gaumont/Mary Evans/picturedesk.com, Archiv

Varianten der Metastadt

Ist die "Stadt der Zukunft" in der Science Fiction also für immer in die Schurkenrolle gedrängt, als architektonisches Monster, das Menschen mit seiner Größe erstickt? Und was sagt das über unser gegenwärtiges Bild von der Stadt als Lebensraum aus? Schließlich greift die Genreliteratur nur auf, was uns jetzt bewegt – nicht unsere hypothetischen Nachfahren in einer ebenso hypothetischen Zukunft. Ein aktueller Trend im Genre deutet auf einen Perspektivenwechsel hin: Der Fokus wechselt von der Skyline einer Stadt zu ihrer Rolle als Netzwerk.

2008 gab der US-amerikanische Autor John Scalzi eine wegweisende Anthologie mit dem Titel "Metatropolis" heraus. Fünf Autoren machten sich darin auf Novellenlänge Gedanken um die Zukunft der Stadtentwicklung. Mehrheitlich drehen sich die Beiträge um gegenwärtige Trends wie vertikale Landwirtschaft, Urban Gardening und Urban Mining: Ausdruck einer "Small is beautiful"-Philosophie, die sich klar gegen die gigantomanischen Visionen traditioneller Science Fiction wendet. Zwei der Novellen gehen aber einen Schritt weiter.

John Scalzi, "Metatropolis". € 9,30 / 416 Seiten, Heyne, München 2010
Foto: Heyne

Metatropolis I: Die Stadt ohne ökologischen Fußabdruck

Der Schauplatz von Jay Lakes "In den Wäldern der Nacht" trägt zwar den pompösen Namen Cascadiopolis – Häuser, Straßen und Monumente wird man dort jedoch keine finden. Diese "Stadt" ist ein loses Netzwerk online verbundener Aussteiger, das sich über den Nordwesten der USA und Teile Kanadas erstreckt und die Welt zum Grimm von Konzernen mit Open-Source-Software versorgt.

Im Schutz von Mammutbäumen und Basalthöhlen schlagen die technologieaffinen Bürger von Cascadiopolis kurzfristig provisorische Unterkünfte auf und ziehen weiter, sobald ihnen ein behördlicher Zugriff droht. Durch die Flexibilität seiner Knotenpunkte erreicht das Netzwerk respektive die Stadt als Ganzes bemerkenswerte Stabilität.

Theoretische Vorbilder

Cascadiopolis hat alte Wurzeln: Unter dem Schlagwort Disurbanismus regte der russische Architekturtheoretiker Michail Okitowitsch schon in den 1920er-Jahren den Verzicht auf Großstädte zugunsten weiträumig verteilter Netzwerke an. Vor allem aber klingt in Lakes Szenario die US-amerikanische Gegenkultur an. Mit seinem Magazin "Whole Earth Catalog" versuchte der kalifornische Aktivist Stewart Brand ein ähnliches Netzwerk bereits in den späten 1960er-Jahren zu etablieren. Rückmeldungen der Käufer sollten ein integraler Bestandteil des Magazins sein und die Leser zusammen mit den Katalogproduzenten zu einer "kybernetischen Maschine" verbinden – heute würde man vielleicht eher von einer Schwarmintelligenz sprechen.

Mit bedrucktem Papier als Medium hielt sich der Grad der Vernetzung natürlich in Grenzen. Umso begeisterter reagierte Brand daher auf die Fortschritte in der Entwicklung von Computern zu Beginn der 80er-Jahre. Brand wie auch der auf alle Arten von Bewusstseinserweiterung spezialisierte Philosoph Terence McKenna sahen dank Personal Computer ein Zeitalter egalitärer Netzwerke und der elektronischen Bündelung von Identitäten heraufdämmern.

Metatropolis II: Virtuelle Verbindungen

Carl Abbott, "Imagining Urban Futures". € 25,62 / 264 Seiten, Wesleyan University Press, Middletown 2016
Foto: Wesleyan University Press

Wie der technische Fortschritt sowohl Identitäten als auch geografische Zuordnungen verschwimmen lässt, schildert eine weitere Novelle in "Metatropolis", Karl Schroeders "Ins ferne Cilenia". Der kanadische Autor schickt seine Protagonisten auf eine Reise, die mit einem Alternate-Reality-Game beginnt, einer Art Superversion von Pokémon Go. Mittels Datenbrillen und Echtzeitlokalisierung bewegen sich die Spieler durch eine erweiterte Realität, die Nichtspielern verborgen bleibt. Das ist aber erst der Anfang. Die Spielwelt enthält Tore in eine noch höhere – oder besser gesagt weiter seitwärts gelegene – Sphäre, Oversatch genannt: eine Stadt, die nur deshalb existiert, weil ihre Millionen Bürger an ihre Existenz glauben und so tun, als ob.

Carl Abbott, langjähriger Professor für Urban Studies an der Universität Portland, hätte keine Probleme, beide Gebilde als Städte anzuerkennen. In seinem vor kurzem veröffentlichten Buch "Imagining Urban Futures", das sich um fiktive Science-Fiction-Städte im Spiegel der Architekturgeschichte dreht, bezeichnet er Städte als komplexe Verbindungs- und Verteilungsmaschinen: "Mehr als alles andere ist eine Stadt ein Mittel, um Verbindungen herzustellen." Und diese Leistung erbringen Cascadiopolis und Oversatch in der Tat.

Verortung spielt keine Rolle

Unter dem Motto "Es kann am selben Ort und zur selben Zeit mehr als eine Welt geben" präsentiert sich Schroeders Oversatch den Eingeweihten als den ganzen Globus umspannende Stadt, die sich in den Zwischenräumen der herkömmlichen Geografie erstreckt, über eine eigene Infrastruktur und Energieversorgung verfügt, eine eigene Währung hat und eigene Politik betreibt – all das völlig unbemerkt von der angeblich einzig realen Welt.

Die Karten dieser Parallelwelt sind ständig im Fluss begriffen, sie richten ihre virtuelle Geografie nach "Attraktoren" aus: Orten, an denen sich entscheidende Vorgänge im Weltgeschehen kurzfristig konzentrieren. Als mobiles Zentrum dient Oversatch eine Reihe von Schiffscontainern, die zu Wohn- und Arbeitseinheiten ausgebaut wurden. Versteckt zwischen gewöhnlicher Fracht, reisen diese Container in wechselnden Konfigurationen und ohne Ende huckepack um die Welt.

Robert Charles Wilson, "The Affinities". € 26,49 / 304 Seiten, Tor Books 2015
Foto: Tor Books

Weder in Cascadiopolis noch Oversatch schert man sich um Staatsgrenzen und ähnliche Beschränkungen, woraus sich das Potenzial für Konflikte ergibt. Die Angst vor neu entstehenden Gesellschaften, die die traditionelle Ordnung erodieren lassen, thematisierte auch der kanadische Autor Robert Charles Wilson in seinem 2015 veröffentlichten Roman "The Affinities", der heuer als "Netzwerk" auf Deutsch erscheinen wird. Die Prämisse: Ein Soziologe hat Algorithmen entwickelt, mit denen sich Menschen zu optimal kooperierenden Gruppen zusammenstellen lassen. Die Software prognostiziert Synergie, sie erkennt, zwischen welchen Menschen es "klicken" würde, und bringt sie zusammen.

Filterblasen und Echokammern

Demografische Merkmale spielen für die Zugehörigkeit zu solchen Affinitäten keinerlei Rolle. Dadurch unterscheiden sie sich auch vom Mosaik der Subkulturen heutiger Großstädte, das immer noch auf einer geografischen Bindung an Viertel oder Grätzel beruht. Die Affinitäten hingegen ziehen ganz neue Grenzen. Und sie funktionieren so gut, dass ihre Angehörigen rasch ihre früheren sozialen Bindungen aufgeben, die sie nun nur noch als mühselig empfinden. Auf Familien-, Nachbarschafts-, Gemeinde- und schließlich Staatsebene verdrängt die Affinität die traditionellen Institutionen, es kommt zum Bürgerkrieg.

Wilsons Roman spiegelt gesellschaftliche Trends der Gegenwart wider: Vielbeklagte Phänomene wie Lagerbildung und Verlust der Konsensfähigkeit, die – so wird es zumindest gerne kolportiert – gefördert werden, indem sich jeder aus der Fülle an medialen Angeboten nur noch das herauszupicken braucht, was ihn in seiner Weltsicht bestärkt. Spät, aber doch hat sich die Science Fiction mit den Effekten von Social Media – mit algorithmisch ausgewählten Nachrichtenzusammenstellungen, mit Filterblasen und Echokammern – auseinanderzusetzen begonnen.

Bei SF-Autor Matthew De Abaitua wachsen die Städte ihren Bewohnern nicht mehr über, sondern in den Kopf.
Fotos: Snowbooks, Angry Robot

Das Netz denkt ...

Extreme Ausformungen bringt das Weiterdenken von Social Media beim britischen Autor Matthew De Abaitua hervor, dessen 2007 bis 2016 veröffentlichte Trilogie "The Red Men" / "If Then" / "The Destructives" den Leser vor einige Herausforderungen stellt. In einer nahen Zukunft ist das Weltwirtschaftssystem zusammengebrochen. Kurz zuvor hatten sich aus komplexen Programmen für Marktanalysen oder auch für die optimale Selbstdarstellung in Social Media die ersten künstlichen Intelligenzen entwickelt, die sich ihrer eigenen Existenz bewusst sind.

Es sind keine Monster mit Weltherrschaftsgelüsten wie Skynet in "Terminator". Stattdessen tragen sie noch immer ihre Grundprogrammierung in sich: den Drang, zu optimieren. Sie wollen die Wirtschaft verbessern, die Gesellschaft, die Umwelt und den Menschen. Und so unterziehen die Softwareintelligenzen die verbliebene Menschheit einer Reihe bizarrer Experimente.

... und lenkt

Exkurs 1: "Science Fiction von der Peripherie", wie es Regisseur Alex Rivera bezeichnet hat, ist ein noch recht junger Trend – im Film wie auch in der Literatur. Die Schauplätze liegen hier nicht mehr im lange Zeit alles dominierenden "alten Westen". Und interessanterweise haben Städte hier auch ein etwas anderes Image als in der unterschwellig antiurbanistisch eingestellten westlichen Science Fiction, merkt Stadtforscher Carl Abbott an. So zeichnen Autoren wie Lavie Tidhar Tel Aviv ("Central Station"), Paolo Bacigalupi Bangkok ("The Windup Girl"), Nnedi Okorafor Lagos ("Lagune"), Lauren Beukes Johannesburg ("Zoo City") und Ian McDonald Varanasi ("Cyberabad") respektive Istanbul ("The Dervish House") als multikulturelle und ein wenig chaotische, aber tendenziell lebensfreundliche Umgebungen. Hier sind die Städte Orte der Hoffnung.
Fotos: Tachyon, Night Shade Books, Cross Cult, Heyne, Rowohlt, Pyr

Im 2015 erschienenen "If Then" ist ein kleiner Ort an der englischen Küste Schauplatz eines solchen Experiments. Doch bildet das eigentliche Dorf samt seinen malerischen Häuschen nur die Kulisse. Die wirkliche Gemeinschaft sitzt buchstäblich im Kopf: Alle Einwohner tragen ein Implantat und speisen durch ihr Biofeedback ein "Prozess" genanntes interaktives Programm, das laufend den optimalen Grad an Wohlbefinden für alle errechnet. Und auch durchsetzt: Wer den Anforderungen des Prozesses nicht genügt, wird kurzerhand in die Wildnis verbannt.

Was auf Dorfebene ausprobiert wurde, gelangt im heuer veröffentlichten Abschlussband "The Destructives" in Form der "Asylum Mall" zu grotesker Vollendung. Millionen Menschen wurden hier in eine Megastruktur gestopft, in der sie gleichermaßen Konsumenten und Patienten sind. Laufend überprüfen sie via Social Media ihr Image, denn auch sie müssen einem vordefinierten Optimum entsprechen – in diesem Fall einem Mittelwert geistiger Gesundheit. Denn nur wer der psychischen Norm entspricht, liefert der Marktforschung brauchbare Inputs, welche Konsumtrends gefördert werden sollen, um das Glück aller zu erhöhen.

Auch hier ist das Gemeinwohl in Form einer computergestützten, sich selbst aufrechterhaltenden Feedbackschleife zu einem eigenständigen Akteur geworden. Und auch hier spielt sich das wahre Stadtleben nicht auf den Straßen ab, sondern in den Köpfen der Bürger.

Wie um zu unterstreichen, dass Architektur in dieser Travestie einer Großstadt keine Rolle mehr spielt, präsentiert der Autor die Asylum Mall als Sammelsurium zusammengetragener Teile. Scheinbar willkürlich haben die künstlichen Intelligenzen Teile ehemaliger Kultur- und Naturflächen abgetragen und zu einem gigantischen Konglomerat zusammengefügt. "Es war, als hätte ein Gott eine Suburb, drei Dörfer und eine kleine Stadt gefressen und dann das Abfallmaterial als Favela ausgeschieden."

This town is big enough for both of us

Neben solchen technologiebasierten Konzepten kann eine "Stadt im Kopf" aber auch ausschließlich auf sozialer Konvention beruhen. 2009 legte der englische Autor China Miéville, der die Welt der Science-Fiction-Literatur zuvor schon um einige typische Molochstädte bereichert hatte, den faszinierenden Roman "Die Stadt & die Stadt" vor. Darin geht es zwar, rein physisch betrachtet, um ein einziges Häusermeer – doch sind es zwei Städte. Das schimmernde Ul Qoma und das ein wenig heruntergekommene Beszel teilen sich den geografischen Raum und sind dicht ineinander verwoben: Es kann die gegenüberliegende Straßenseite zur anderen Stadt gehören, ein Haus in einem Block oder sogar ein einzelnes Stockwerk innerhalb eines Hauses.

Exkurs 2: China Miéville ist für seine barocke Sprachgewalt ebenso bekannt wie für seine bizarren Handlungsideen und sein kompromissloses politisches Engagement. Neben all dem ist er aber auch ein Poet der Urbanität: Fast immer sind Städte die Schauplätze und im Grunde auch heimlichen Hauptfiguren seiner Romane. Sie können surreale Versionen von London sein ("König Ratte", "Un Lon Dun") oder auf anderen Planeten liegen wie in "Stadt der Fremden" oder den populären Bas-Lag-Romanen ("Die Falter", "Der Weber", "Der Eiserne Rat"). Einzigartig selbst für die Verhältnisse Miévilles ist der Doppelpack Ul Qoma / Beszel in "Die Stadt & die Stadt".
Fotos: Bastei Lübbe, Porträtfoto: Chris Close

Jede Stadt hat ihre eigene Kultur, Übertritte sind bei Strafe verboten. Damit dies trotz örtlicher Deckungsgleichheit funktioniert, lernen die Einwohner der vage osteuropäisch gezeichneten Doppelstadt von Kindheit an, das auszublenden, was nicht zu ihrer Seite gehört. Sie nennen es das "Nichtsehen". Ein Spaziergang wird so zum psychedelischen Leseerlebnis: "Ich ging zu Fuß, an den Backstein-Arkaden entlang: Oben, wo die Gleise verliefen, waren sie extern, aber nicht bei allen reichte das Fremde bis ganz nach unten. Die, die ich sehen durfte, beherbergten kleine Läden und besetzte Wohnungen, alles mit künstlerisch wertvollen Graffiti dekoriert. In Beszel war es eine ruhige Gegend, aber die Straßen wimmelten von denen anderswo. Ich nichtsah sie, aber es kostete Zeit, sich zwischen ihnen hindurchzuschlängeln."

"Die Stadt & die Stadt" ist auf verschiedenste Weise interpretiert worden: Als Metapher für Multikulturalismus und Parallelgesellschaften, für den Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus oder einfach von Alt zu Neu. Allerdings hat Miéville neben einer ausgemachten Vorliebe für urbane Schauplätze stets auch sein Faible für Semiotik bewiesen. Sein preisgekrönter Roman demonstriert nicht zuletzt, wie sich Kulturen über ihre Zeichensysteme – von der Sprache bis zur Mode – definieren und eine konsensuelle Realität schaffen. Im vorliegenden Fall sind es eben mehrere Realitäten, doch kann weder eine der beiden Städte im Kopf noch die ihnen zugrunde liegende physische Stadt für sich in Anspruch nehmen, die "wahre" zu sein.

Eine Stadt auf Wanderschaft

Ein ganz anderer Fall von der Stadt als geistigem Prinzip begegnet uns schließlich im 2008 veröffentlichten Roman "Die letzte Flut" des britischen Erfolgsautors Stephen Baxter. Die hier auftauchende Metastadt Walker City ist aus reiner Not geboren: Wasser strömt aus dem Erdmantel an die Oberfläche und führt zu einem apokalyptischen Anstieg des Meeresspiegels. Milliarden Menschen finden sich auf der Flucht wieder, doch nicht immer geschieht dies ungeordnet. Die tausenden Bürger von Walker City mussten ihre Häuser zurücklassen, haben die städtische Organisationsstruktur aber beibehalten: Verwaltung, Polizei, Gesundheitsversorgung und sogar Seelsorge.

Walker City zieht von einem Ort, der Ressourcen bieten könnte, zum nächsten und versucht als wandernde Insel der Ordnung der zunehmenden Entropie entgegenzuwirken. "Städte sind, einfach gesagt, Orte, an denen wir zusammenkommen, um zu überleben", brachte es die US-amerikanische Autorin Kathleen Ann Goonan auf den Punkt. Auch wenn die löblichen Bemühungen zumindest in diesem Fall nichts helfen, weil sich am Ende von Baxters Roman das neue Weltmeer über dem Gipfel des Mount Everest schließen wird.

All diese Erzählungen bereichern nicht nur die Science Fiction um neue Ideen abseits des Klischees vom Stadtmoloch. Sie spiegeln auch wider, welche Aspekte von Urbanität im öffentlichen Bewusstsein an Bedeutung gewinnen und an welchen das Interesse schwindet. Anders als die Futurologie versucht die Science Fiction ja keine möglichst genauen Prognosen für die Zukunft zu erstellen, sondern Bilder und Metaphern für diejenigen Themen zu finden, die uns in der Gegenwart beschäftigen.

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Zimmer mit Aussicht: Der Kanzler hat einen Premium-Blick auf Coruscant, die Hauptstadt der Galaktischen Republik von "Star Wars". Mit Trantor hatte SF-Autor Isaac Asimov schon ein halbes Jahrhundert zuvor eine vergleichbare planetenumspannende Stadt entworfen.
Foto: United Archives / picturedesk.com

Das Wachstum geht munter weiter

Deshalb sollte es auch nicht verwundern, dass trotz der hier versammelten Gegenbeispiele besagter Stadtmoloch als Motiv alles andere als tot ist. Wie zum Beweis veröffentlichte der russische Bestsellerautor Dmitry Glukhovsky 2013 den Roman "Futu.re", in dem die Erde von einer satten Billion Menschen bevölkert ist. Die Massen drängen sich in kilometerhohen Wohntürmen zusammen, die ihrerseits fast die gesamte planetare Landfläche bedecken: ein irdisches Pendant von Trantor in Isaac Asimovs "Foundation"-Reihe oder von Coruscant in "Star Wars".

Doch Glukhovsky treibt damit nur einen seit langem anhaltenden Trend auf die satirische Spitze: 1950 lag der Urbanisierungsgrad der Weltbevölkerung bei 30 Prozent, 2007 überschritt er erstmals die 50-Prozent-Marke. 2050 werden laut UNO-Prognosen 70 Prozent aller Menschen in Städten leben. Solange sich dieser Trend nicht umkehrt, werden die realen Megastädte weiterwachsen und ihre fiktiven Pendants in Literatur und Film noch monumentalere Ausmaße annehmen. Aber zwischen den Kolossen verdichten sich, Stahl und Beton durchdringend, die Netzwerke der Metastädte. (Jürgen Doppler, 9.1.2017)