Blick in die Höhle Arago. Die vielen Schnüre sind Teil des lokalen Vermessungsnetzes.

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Die Höhle liegt 80 Meter über dem Fluss Verdouble.

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Marie-Antoinette de Lumley putzt einen Kieferknochen, Arago 89, gefunden am 3. August 2001 in der Höhle. Im Hintergrund Henry de Lumley.

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Die Bloggerin 2001 in Tautavel – beim Fund von Arago 89 war sie dabei.

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Im Bild das 1971 entdeckte Kiefer.

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Der 560.000 Jahre alte Zahn machte 2015 Schlagzeilen.

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Video: Ausgrabungsort und Funde aus der Caune de l'Arago.

Antonio ortiz lucena

"Hast du schon mal etwas voll Spannendes gefunden? Gold? Oder eine Mumie? Oder Atlantis?" Diese Fragen stellt mir ein äußerst wissbegieriger Sechsjähriger am Neujahrstag. Etwas zerknirscht muss ich zugeben, dass ich in meiner Laufbahn als Archäologin weder Schätze noch Mumien gefunden und auch Atlantis noch nicht entdeckt habe. Der kleine Archäologiefan lässt aber nicht locker und will alles über meine Ausgrabungen und Projekte wissen. Und während ich erzähle, fällt mir meine allererste Ausgrabung ein und der sensationelle Fund, den wir dort gemacht haben.

Im Sommer 2001 sitze ich voller Erwartungen an einer Tankstelle im Südosten Frankreichs, im Department Pyrénées-Orientales, und warte auf eine Mitfahrgelegenheit. Ich bin 20, im zweiten Semester des Studiums der Ur-und Frühgeschichte an der Uni Wien und auf dem Weg zur paläolithischen Fundstelle Arago, einer Karsthöhle. Ursprünglich wollte ich an einer der Lehrgrabungen meines Instituts teilnehmen, konnte jedoch keinen Platz mehr ergattern. Ein Kollege erzählt von einer Ausgrabung in Tautavel im französischen Teil der Pyrenäen. Wir bewerben uns und bekommen eine Zusage. Nach einer Stunde Warterei hat ein freundlicher Herr schließlich Erbarmen und nimmt uns mit seinem Auto bis zur Fundstelle mit, die circa drei Kilometer von dem kleinen Städtchen Tautavel entfernt am Ausgang einer Schlucht liegt, durch die der Fluss Verdouble fließt.

Einige der ältesten menschlichen Skelettreste in Europa

Die Höhle Arago ist als wichtiger Fundort des Altpaläolithikums, des ältesten Abschnitts der Altsteinzeit, durch die Entdeckung einiger der ältesten menschlichen Skelettreste in Europa bekannt geworden. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts war man auf die Unmengen an fossilen Tierknochen darin aufmerksam geworden, seit 1964 wird die Höhle durch das Muséum national d'histoire naturelle in Paris durchgehend systematisch erforscht.

Die Höhle liegt 80 Meter über dem Talboden und ist heute circa 30 Meter lang und zehn Meter breit. Sie enthält ein mehr als 15 Meter mächtiges Sedimentpaket, das während des Mittelpleistozäns (781.000 bis 126.000 vor heute) abgelagert wurde. Der für die Archäologie signifikanteste Teil dieser stratigrafischen Sequenz befindet sich im Ensemble III, zwischen den Horizonten G und D (circa 450.000–300.000 Jahre vor heute) und hat bis dato 149 Teile menschlicher Skelette hervorgebracht.

Der bis heute wichtigste Fund: Arago 21

Am häufigsten wurden Schädelreste gefunden, vor allem Backen- sowie mehrere Schneide- und Eckzähne. Seltener konnten die Archäologen Fragmente von Oberschenkelknochen, Teile des Beckens und der Arme bergen. Seinen bis heute wohl wichtigsten Fund gab die Höhle am 22. Juli 1971 preis: Arago 21, bestehend aus Teilen des Gesichts- und des Stirnschädels, wurde von einem Team um den französischen Paläoanthropologen Henry de Lumley geborgen und auf 450.000 Jahre vor heute datiert.

Der Fund eines derart alten menschlichen Schädels ist von großer Bedeutung, weil er ein wichtiges Glied in der Erforschung der menschlichen Stammesgeschichte darstellt. Solche Funde sind extrem selten, weil sie geeignete Erhaltungsbedingungen erfordern, wie eben die Deponierung im geschützten Bereich einer Höhle. Arago ist daher für Paläoanthropologen und Archäologen ein Sechser im Lotto und wird seit nunmehr 52 Jahren akribisch untersucht. Um die notwendigen Arbeiten ausführen zu können, wurde im benachbarten Tautavel ein Forschungszentrum errichtet: das Centre Européen de Recherches Préhistoriques de Tautavel (CERPT). Das angegliederte Museé de Tautavel zeigt die Ergebnisse der jahrelangen Forschungen und bietet in den Sommermonaten Führungen zur Höhle an.

Spezielle Ausgrabungstechniken

Ausgrabungen an steinzeitlichen Fundstellen erfordern spezielle Ausgrabungstechniken. Hier arbeiten Archäologen und Paläoanthropologen tatsächlich vor allem mit feinem Werkzeug und Pinsel. Während meiner sechs Wochen in Arago habe ich nicht ganz fünf Liter Sediment abgebaut, eine verschwindend geringe Menge, verglichen mit der Arbeit auf Ausgrabungen späterer Epochen, bei denen hauptsächlich Schaufel, Spaten und Kelle zum Einsatz kommen. Vor allem die Horizonte mit der höchsten Funddichte erfordern einiges an Zeit, denn jeder noch so kleine Steinsplitter und jedes Knochenfragment wird nach Möglichkeit dokumentiert und dreidimensional eingemessen, bevor es geborgen und ins Tal transportiert wird. Selbst das Sediment wird nochmals gesiebt und durchgesehen, um möglichst alle relevanten Fundstücke zu bergen.

Diese akribische Vorgehensweise lässt einiges an Rückschlüssen über die Menschen zu, die in der Umgebung von Arago gelebt haben. Ursprünglich wurden die menschlichen Skelettreste einer Unterart des Homo erectus zugeordnet und als Homo erectus tautaveliensis bezeichnet. Mittlerweile wird der Tautavel-Mensch aber als Homo heidelbergensis betrachtet. Diese Spezies lebte zwischen 600.000 und 200.000 Jahren in Europa und dem nördlichen Afrika und wird im komplexen Gefüge des menschlichen Stammbaums derzeit als Vorfahr des Neandertalers gesehen. Die vergleichsweise große Menge an Überresten mehrerer Individuen, darunter Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, ist einzigartig und hilft, die Entwicklung und die Eigenschaften des Homo heidelbergensis weiter zu präzisieren.

Ideale Bedingungen für die Jagd

Arago ist eine der größten Karsthöhlen der südlichen Corbières-Region und bietet durch seine strategische Lage ideale Bedingungen für die Jagd, wobei auch der gelegentliche Verzehr von Aas durch den Tautavel-Menschen angenommen wird. Das wird auch durch die Fülle von Tierknochen in der Höhle und die mehr als 50 verschiedenen Begehungshorizonte belegt, die je nach Periode unterschiedliche Mengen an Nashörnern, Pferden, Wildschafen, Moschusochsen, Wisenten, Hirschen und Rentieren beinhalten und dadurch wichtige Daten zur Biochronologie des Mittelpleistozäns liefern.

Durch das Fehlen von Feuerstellen innerhalb der Höhle nimmt man an, dass der Tautavel-Mensch das Feuer noch nicht beherrschte und sein Mahlzeiten weitgehend roh verzehrte. Auch das Steinwerkzeug unterscheidet sich von Horizont zu Horizont und spiegelt die Entwicklung innerhalb der Acheuléen-Kultur wider. Das für die Geräte verwendete Rohmaterial stammt dabei zu 80 Prozent aus der näheren Umgebung, vor allem aus den alluvialen Ablagerungen des Verdouble. Es finden sich jedoch auch Materialien, die aus weiter entfernten Lokalitäten stammen und somit eine gute Kenntnis der Umwelt sowie der eigenen Bedürfnisse voraussetzten. Die Funde in Arago liefern darüber hinaus auch Vergleichsdaten über das Klima und die Umwelt im mediterranen Raum während des Mittelpleistozäns, die morphologische Entwicklung der ersten Einwohner Europas und ihrer geochronologischen und paläoökologischen Stellung.

Freie Kost und Logis im Zeltlager

Als ich 2001 in Tautavel ankomme, arbeiten etwa knapp an die 80 vorwiegend junge Leute in Arago. Das Leben in einem Zeltlager am Fluss ist anstrengend, wir arbeiten sechs Tage die Woche bei oft über 30 Grad Celsius im Schatten; in der Höhle ist es etwas kühler. Dafür bekommen wir freie Kost und Logis und werden in sämtlichen Aspekten der Ausgrabungsarbeit geschult. Längst nicht alle hier studieren Archäologie oder Anthropologie, die Mehrzahl – zumindest 2001, heute ist das anders – besteht aus interessierten Freiwilligen. Ich lerne Menschen aus aller Herren Länder kennen, sogar aus Japan sind einige Kollegen angereist.

Ein neues Unterkiefer! Arago 89

In der Höhle bin ich für meinen eigenen Quadranten zuständig, aber ich arbeite auch zwei Wochen im Labor, wo ich unter Aufsicht Tierknochen bestimme. Insgesamt sechs Wochen bin ich bereits hier, und mittlerweile kenne ich mich gut aus mit allem, was die Höhle anbelangt. Ich weiß auch, dass alle darauf hoffen, bald wieder auf menschliche Knochen zu stoßen. Seit dem Fund von Arago 21, dem Schädel, vor fast 30 Jahren kamen nur sehr kleine, weniger aussagekräftige menschliche Skelettteile zum Vorschein. "Doch das kann sich jeden Tag ändern", lachen wir oft – es ist unser Motto. Als es dann tatsächlich so weit ist, können wir es kaum glauben.

Seit drei Wochen schon arbeiten wir an zwei nebeneinander liegenden Quadranten, die vollgepackt sind mit Tierknochen. Das kompakte Sediment dazwischen muss vorsichtig mit Zahnarztwerkzeug und Pinsel abgebaut werden, die einzelnen Fragmente sind schwierig zu identifizieren. Eines Nachmittags bekommen wir Unterstützung aus dem Labor – einer der Wissenschafter aus dem Forschungszentrum sieht sich die Knochen an, stutzt, sieht genauer hin, setzt sich dann auf eine der Planken und atmet tief durch. Wir sehen ihn fragend an, während er nochmals einen der Knochen untersucht und dann meint: "Ich denke, wir haben hier ein menschliches Unterkiefer."

Ein denkwürdiger Tag

Was folgt, ist ein Wirbelwind. Henry de Lumley, der Direktor der Ausgrabungen, kommt aus Paris, gefolgt von einer Schar Journalisten, wir sind in allen Nachrichten, abends gibt es eine Riesenparty, und ich fühle mich wie Indiana Jones. Das Unterkiefer von 2001, das erste seit 1970, bekommt die Nummer Arago 89 und wird vorläufig auf 450.000 Jahre vor heute datiert.

Ich habe mir auf der Party dann übrigens noch den Arm gebrochen und bin für den Rest der Grabungssaison ausgefallen. Eine kleine Narbe am Unterarm wird mich also für den Rest meines Lebens an diesen denkwürdigen Tag erinnern und daran, dass unter gewissen Umständen ein menschliches Unterkiefer Gold wert sein kann. Wie ich das allerdings meinem neugierigen kleinen Freund erklären soll ... (Petra Schneidhofer, 5.1.2017)