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Die Nationalfahne ist für die Türken mehr denn je ein Zeichen des Trotzes gegen den Terror geworden.

Foto: Reuters / Murad Sezer

In anderen Metropolen der Welt mögen Automobilmarken oder Parfums etagenhoch an Häuserfassaden angepriesen werden, in Istanbul sind es jetzt politische Losungen und Appelle von Privatleuten, geboren aus Trotz und Verzweiflung.

"Das Volk hat die Souveränität", suggeriert ein Schriftzug, der das abbruchreife Atatürk-Kulturzentrum auf dem Taksim-Platz in Istanbul einhüllt. 50 mal 20 Meter groß, auf dem blutroten Hintergrund der türkischen Fahne. Er soll die Türken an den Sieg über die Putschisten im Sommer vergangenen Jahres erinnern und dar an, dass der autoritäre Kurs doch von den Bürgern gewollt wäre.

Land unter Spannung

Auch anderswo in der Millionenstadt ist abzulesen, wie stark das Land unter Spannung steht. "Wir sind das Volk. Wir werden die Türkei nicht von Putsch und Terror auffressen lassen", proklamiert die Regierung an Fassaden.

Händler und Restaurantbesitzer wiederum haben auf dem Tarlabaşi-Boulevard, unterhalb des Taksim und gegenüber einer Polizeiwache, ein girlandenförmiges Portal am Eingang einer Seitenstraße ins Vergnügungsviertel errichtet, reichlich verziert mit kleinen türkischen Fähnchen. "Wir alle sind mit unseren Polizisten", steht dort.

Seit dieser Woche hat das Land wieder einen neuen tragischen Helden. Fethi Sekin heißt er, ein 43 Jahre alter Verkehrspolizist. Sekin vereitelte am Donnerstag einen noch schlimmeren Terroranschlag vor dem Justizpalast in Izmir. Doch er starb beim Schusswechsel mit den flüchtenden Attentätern. Es war der dritte Anschlag innerhalb eines Monats: 39 Menschen starben in der Neujahrsnacht im Istanbuler Nobelklub Reina, 47 waren es vor dem Fußballstadion von Beşiktaş. Der IS bekannte sich zur einen Tat, eine Splittergruppe der PKK zur anderen. Sie sollen sich zeigen, wenn sie den Mut haben, rief Präsident Tayyip Erdogan dieser Tage in einer Rede aus, "ich fordere sie heraus!". Es war eine verzweifelt anmutende Kampfansage.

"Mehr Demokratie"

In der Türkei gibt es nur noch den Terror und als zwingende Antwort der Regierung die Sturzfahrt ins autoritäre Regime, so scheint es: den Ausnahmezustand, der nun seit bald sechs Monaten gilt und noch wenigstens bis April in Kraft bleiben wird, und die Verfassungsänderung für Erdogan, über die das Parlament ab Montag debattiert. Nur die Linke und die Liberalen im Land rebellieren. "Der Ausnahmezustand verhindert keinen Terrorismus", sagt Binnaz Toprak, eine emeritierte Soziologieprofessorin und kurzzeitige Abgeordnete der größten Oppositionspartei CHP. "Wir brauchen keinen Ausnahmezustand. Was wir brauchen, ist mehr Demokratie und Bürgerrechte."

Binnaz Toprak hat vergangenen Sommer, noch vor dem vereitelten Putsch, zusammen mit Riza Türmen, einem ehemaligen Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, eine politische Sammlungsbewegung gestartet. "Einheit für Demokratie" heißt sie, ein Unternehmen irgendwo zwischen Don Quichotte und Bürgerbetroffenheit.

Sorge um den Weg des Landes

Es gehe um Synergien zwischen linken Parteien, den Kurden, Gewerkschaften, NGOs, erklärt Toprak, um eine vereinte Opposition, die eine Alternative zur regierenden konservativ-islamischen AKP sein könnte. "Wir sind besorgt über den Weg, den das Land eingeschlagen hat", sagt die Soziologin.

Wie viel Spielraum liberal Gesonnenen in diesen Zeiten bleibt? Binnaz Toprak weiß keine eindeutige Antwort darauf. Vorsichtig müsse man natürlich sein und keine Grenzen überschreiten. Aber die wichtigere Frage scheint ihr, was die "Einheit für Demokratie" überhaupt gegen den Erdogan-Staat ausrichten kann. "Vielleicht nehmen sie das nicht ernst. Und sie haben recht damit. Denn ich weiß nicht, wohin die Bewegung geht und was sie einmal sein könnte in der derzeitigen Lage."

20 Punkte Rückgang

Die Terrorserie und die Ohnmacht der Regierung essen die Moral der Türken auf. Noch ist die Unterstützung für den Ausnahmezustand und Erdogans Notstandsdekrete groß. Aber sie schrumpft: von 87 Prozent im Oktober auf jetzt 67, wenn man den Umfragen glauben will. Die Regierung stehe an einem kritischen Punkt, sagt Özge Genç vom Zentrum für Öffentlichkeitspolitik und Demokratie (Podem). Sie hat die kurdischen Extremisten im Blick, den einen Teil des Terrors in der Türkei. Noch nie seien die Kurden im Land so desillusioniert über die PKK gewesen, sagt die Forscherin. Für die Regierung wäre jetzt Gelegenheit, das Leben der Kurden zu verbessern und deren Herzen zu gewinnen.

Podem hat im Auftrag der Regierung viel Feldforschung im kurdischen Südosten der Türkei betrieben und sogar Interviews mit PKK-Kämpfern in deren Basis im Nordirak geführt. Das war, als Ankara noch mit der Untergrundarmee verhandelte. Es sei schwer für NGOs, sich in Zeiten wie diesen Gehör zu verschaffen, sagt Özge Genç. "Aber es hindert uns nicht daran, unsere Arbeit zu machen." (Markus Bernath, 6.1.2017)