Russische Gefängnisse gelten als alt, überfüllt und dreckig. Wer einmal hier war, kann sich nur schwer wieder in die Gesellschaft integrieren. Mit gemeinnütziger Arbeit soll Besserung eintreten.

Foto: AFP / Maxim Marmur

Russland hat mit dem neuen Jahr seinen Strafenkatalog erweitert: Richter können nun bei einigen Vergehen statt einer Haftstrafe Zwangsarbeit anordnen. Die russische Gefängnisbehörde FSIN eröffnet im Jänner vier "Besserungszentren" – in Sibirien, Russlands Fernost, im Kaukasus und im Wolgagebiet – und sieben Aufnahmepunkte für Zwangsarbeiter. Insgesamt bieten sie zunächst einmal 900 Verurteilten Platz.

Im Gegensatz zur Haftstrafe seien die Täter "nicht von der Gesellschaft isoliert", betont Waleri Maximenko, Vizedirektor der FSIN. Sie könnten Telefon und Internet benutzen, einen Teil des verdienten Geldes behalten, einen Arzt aufsuchen und nach Verbüßung von einem Drittel der Strafe auch außerhalb der Zentren mit ihren Familien zusammenleben.

Gefängnisse mit schlechtem Ruf

Für Russland ist das derzeitige Gefängnissystem belastend – moralisch und finanziell. Die Haftanstalten sind alt, überfüllt und dreckig. Drinnen herrscht ein Klima der Angst und Gewalt, das sowohl von Mitgefangenen als auch von Wärtern ausgeht. Das führt immer wieder zu Aufständen.

Dabei lässt sich der Staat seine Zuchthäuser einiges kosten: 2016 wurden umgerechnet vier Milliarden Euro dafür veranschlagt. Bei den Insassen kommt aber wenig an. Fast 75 Prozent gehen für das Personal drauf, das sich trotz der Anschaffung von tausenden Videokameras und Metalldetektoren nur unwesentlich verringert hat. Für die Gefangenen selbst gibt Russland hingegen laut Europarat nur 2,20 Euro pro Tag aus – 50-mal weniger als andere europäische Länder im Durchschnitt. Schlimmer noch: Es gibt kein Konzept für eine Resozialisierung.

Fast nur Schuldsprüche

Viktor etwa sitzt bereits zum zweiten Mal im Gefängnis. Das erste Mal musste der aus Sotschi stammende Mann wegen leichter Körperverletzung in Haft. "Es war ein Nachbarschaftsstreit, der in eine Schlägerei ausartete. Nur war Viktors Nachbar eben Polizist, hat sich im Gegensatz zu Viktor seine blauen Flecken im Spital bestätigen lassen und ihn nachher angezeigt", erzählt Viktors Mutter Swetlana. Wer gegen einen Vertreter der Staatsgewalt antritt, hat schlechte Chancen vor Gericht. Ohnehin neigt die russische Justiz zu Verurteilungen. Richter sprechen mehr als 90 Prozent der Angeklagten schuldig. "Unabhängige Gerichte und Richter gibt es praktisch nicht. Sie sind Teil der Strafverfolgung", klagt der Petersburger Anwalt und Bürgerrechtler Igor Kutscherena.

Für Viktor bedeutete die Inhaftierung den eigentlichen Abrutsch: Während ihn daheim Frau und Kind verließen, versank er im Knast im kriminellen Milieu, schloss Bekanntschaften und befolgte neue Regeln. Nach seiner Entlassung dauerte es nicht lange, und er wurde beim Straßenhandel mit Drogen erneut festgenommen und verurteilt.

Das ist ein Beispiel von vielen: Etwa 650.000 Menschen sitzen in Russland hinter Gittern, das ist absolut und prozentuell die zweithöchste Zahl an Strafgefangenen in den entwickelten Industrieländern. Übertroffen wird Russland nur von den USA. Doch während die Gesamtzahl in Russland immerhin rückläufig ist, stieg die Zahl der Rückfälligen auf ein Allzeithoch. Fast jeder zweite Strafgefangene ist Wiederholungstäter.

"Diebe im Gesetz"

In Russlands Gefängnissen hat sich eine stabile Parallelwelt mit eigenen Regeln und Gesetzen entwickelt. "Wor w sakone" ("Diebe im Gesetz") heißen im postsowjetischen Raum die wichtigsten kriminellen Autoritäten. Es ist eine geschlossene, konspirative Gesellschaft mit einem eigenen strengen Kodex, von deren Gunst das Wohlergehen und mitunter sogar das Leben der anderen Gefangenen abhängt. Das in den 1930er-Jahren entstandene System wurde nie zerschlagen, was dazu führt, das bis heute viele Gefängnisse als "Nachwuchsakademie" der Unterwelt dienen.

Experten verbinden deshalb mit der Einführung der Zwangsarbeit auch die Hoffnung, zumindest für einen Teil der potenziellen Wiederholungstäter den fatalen Kreislauf zu unterbrechen. Die Strafe soll vor allem für Ersttäter und bei geringeren Vergehen – maximale Haftstrafe bis zu fünf Jahre – angewendet werden.

Genaue Art der Arbeit unklar

Daneben gibt es noch andere Gründe für die Einführung: So könne der Staat die Straftäter zur Arbeit dort einsetzen, wo sie gebraucht würden, und behält auch noch einen Teil des Lohns zur Tilgung des Schadens ein, den der Verurteilte verursacht habe, sagt Nwer Gasparjan, Berater der Anwaltskammer in Russland. Genaue Angaben dazu, welche Arbeiten die Verurteilten ausführen müssen, gibt es nicht. Zur Diskussion steht, dass sie für Begrünungs- oder Reinigungsarbeiten in den Städten eingesetzt werden. Das Gulag-System zur Ausbeutung von Gefangenen soll jedenfalls nicht wiederbelebt werden. (André Ballin aus Moskau, 10.1.2017)