
Der Salzburger Virgil Widrich sucht in einem Masterstudiengang an der Angewandten in Wien die Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft. Im Interview spricht er von einem "ständigen Kraftakt", um die Balance zu halten.
STANDARD: Sie leiten den Masterstudiengang Art and Science an der Angewandten. Was kann man sich darunter im Detail vorstellen?
Widrich: Rektor Gerald Bast hat 2008 die Idee entwickelt, etwas mit Art und Science zu machen. Weil er wusste, dass ich eine gewisse Affinität dazu habe, bat er mich, einen Lehrgang zu entwickeln, der relativ rasch umgesetzt wurde. Seit 2009 läuft er nun schon, er geht über vier Semester, mit zehn bis zwölf Studierenden im Jahr. Von Beginn an hat sich gezeigt, dass wir aus der Angewandten rausgehen müssen, weil es dort nicht die Ressourcen im Bereich der Wissenschaft gab. Zudem haben wir wegen der Internationalität der Studierenden die Sprache auf Englisch umgestellt. Zwei Drittel haben einen Kunsthintergrund, ungefähr ein Drittel kommt aus der Wissenschaft.
STANDARD: Wissenschaft zeichnet sich durch Methodik aus, die Kunst spielt vielleicht eher mit Methoden, ist jedenfalls nicht daran gebunden. Wie bringt man das in eine Balance?
Widrich: Die Balance ist ein ständiger Kraftakt. Es ist zwar relativ leicht möglich, Kooperationspartner in der Wissenschaft zu finden, also in der Regel überbeanspruchte Wissenschafter, die noch ein bisschen Zeit für die Kunst aufbringen. Idealerweise sollte es aber nicht so sein, dass die Künstler die Wissenschaft für ihre Zwecke ausbeuten. Für Künstler sind Wissenschafter manchmal nur Helfer bei einer Recherche, aus deren Material sie dann etwas Neues generieren. Das ist nicht die Idee. Die komplementäre Illusion vonseiten der Wissenschaft gibt es auch: Hurra, da sind Leute, die uns schöne Bilder machen, die können das illustrieren, was wir herausfinden. Idealerweise ist es bei uns so, dass mit den Methoden der Kunst und mit denen der Wissenschaft an die Projekte herangegangen wird. Die Projekte sind sehr offen. In jedem Fall geht es um ein Verlassen der jeweiligen Box. Manchmal ist die Box so stark, dass ein Wissenschafter unter Pseudonym studiert hat, weil er befürchten muss, sich sonst zum Outlaw in seinem Fach zu stempeln.
STANDARD: Für die Künste ist diese Entgrenzung schon seit langem Programm, aber auch in der Wissenschaft ist Interdisziplinarität sehr wichtig.
Widrich: Bis vor einigen Jahrhunderten waren Kunst und Wissenschaft ja ohnehin nicht getrennt, wenn wir an jemanden wie Leonardo da Vinci denken. Seit der Romantik ist die Kunst die Domäne des Subjektiven, des Unwiederholbaren, während die Wissenschaft das Objektive und das Nachvollziehbare beansprucht. Also sehr gegenteilige Konzeptionen. Aber alle suchen auf eine gewisse Weise "nach der Wahrheit", da gibt es auch sehr ähnliche Werkzeuge. Die apparative Wahrnehmung der Welt und die Interpretation der Daten sind etwas, worin die Vorgänge einander sehr ähnlich sind.
STANDARD: In der Kunst hat schon eine Weile der Begriff "Artistic Research" Konjunktur. Das meint etwas anderes, als das, was Art & Science macht. Aber das haben Sie wohl auch im Blick?
Widrich: Natürlich beobachten wir das, aber es ist tatsächlich nicht genau unser Feld. Wir machen vielleicht etwas, was noch gar keinen Namen hat, und wir wollen das auch gar nicht zu genau definieren. Unser Senior Lecturer Bernd Kräftner hat wie ich einen Filmhintergrund, ist als Filmemacher vielleicht am ehesten offen für Universalwerkzeuge. Art-Scientist ist ja kein Berufsbild.
STANDARD: Gibt es Bereiche in den Wissenschaften, die eine Affinität im weitesten Sinn zur Kunst haben? Zum Beispiel so etwas wie theoretische Physik?
Widrich: Wir haben aktuell eine Kooperation mit dem Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, das im fünften Bezirk in Wien in einem sehr unscheinbaren Haus untergebracht ist. Dort bauen sie Sensoren für den Large Hadron Collider am Cern. Es geht um hochphilosophische Fragen, manche sind gar nicht so weit weg von künstlerischen Visionen. Aber die Zeit, in der jemand wie Einstein Probleme rein denkerisch löste, mit Papier und Bleistift sozusagen, die ist wohl vorüber. Heute beruht fast alles auf Datenmengen, man analysiert Big Data und Noise, den Lärm oder Schmutz in den Daten. Und die Wissenschaft hat von der Kunst die Zukunftsvisionen übernommen. Früher haben Menschen wie Fritz Lang oder Arthur C. Clarke visionär vorausgedacht. Dieser Rang wurde der Kunst abgelaufen. Heute spricht man davon den Genpool zu reinigen, aber es sind nun die Wissenschafter, die so etwas in den Raum stellen. Daraus ergeben sich ethische Fragen, da geht es ganz schnell um Geld und Macht.
STANDARD: Spielt denn Ethik überhaupt eine Rolle im Studiengang?
Widrich: In unserem Curriculum sind die Angebote dazu limitiert, diese Dinge machen die Studierenden teilweise an anderen Instituten. Aber die Fragen tauchen immer wieder auf. Wir hatten kürzlich eine unglaublich interessante Diskussion mit dem Radiologen Paul Kainberger über Mammografien. Diese Röntgenbilder von der weiblichen Brust werden im Moment noch von Menschen ausgewertet, bis zu 2000 Bilder am Tag. Nun wird versucht, das Maschinen beizubringen. Und die Maschinen beginnen langsam so gut zu werden wie die Menschen. Dann entscheidet aber eine Maschine über Leben und Tod. Was ist das Beste aus beiden Welten? In solchen Fällen erweist es sich als hilfreich, dass unsere Studierenden aus aller Welt kommen. Eine Studentin aus dem Iran machte uns darauf aufmerksam, dass in ihrem Heimatland der Arzt immer zuerst mit der Familie spricht, nicht mit den Patienten selbst.
STANDARD: Empfinden angehende Künstler die Begegnung mit der Wissenschaft manchmal als Kränkung? Immerhin kratzt das alles ja stark an der Vorstellung vom Originalgenie.
Widrich: Wir sind momentan in einer Zwischenphase, in der wir herausfinden, wie intelligent die Maschinen werden können. Einer unserer Studenten hat zum Beispiel eine Algorithmic Search for Love programmiert, für die Suche hat er 5000 Filme inklusive aller Dialoglisten eingespeist. Und dann hat er alle Momente daraus, in denen das Wort Liebe vorkommt, zu einem Found-Footage-Film zusammengeschnitten, den man als Film absolut ernst nehmen kann.
STANDARD: Zugleich wirkt das wie eine Fortsetzung von Konzeptkunst: Der Künstler macht eine Partitur, die Maschine führt durch. Die Arbeit hat aber auch etwas Wissenschaftliches, wenn man vergleichsweise an eine datengestützte Literaturwissenschaft denkt, die auch große Mengen Text nach Parametern durchsucht.
Widrich: Diese Zusammenhänge treffen ganz gut den Punkt. Im Cern entstehen gigantische Datenmengen. Das vielbeschworene Gottesteilchen ist eine Datenspur. Der Aufprall ist ein fotografisches Phänomen, davon werden Datenmengen gesammelt, gereinigt, und dann intensiv durchberechnet. So schauen die Teilchenforscher in die Welt, das ist eigentlich auch ein sehr langsames Geschehen. Aber im strengen Sinn gibt es da nichts zu sehen, man schaut auf einen Film. (Bert Rebhandl, 16.1.2017)