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Schriftsteller Philipp Blom.

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Philipp Blom, "Bei Sturm am Meer", € 20,60 / 223 Seiten. Zsolnay-Verlag, Wien 2016

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Auf dem Umschlag geht es plakativ zur Sache: ein aufgepeitschtes Meer, die Gischt einer sich brechenden Welle. Schließlich heißt das Buch ja Bei Sturm am Meer, und dieser Titel ist wiederum jenem Bild, einem "holländischen Seestück", geschuldet, das im Roman in einem deutschen Wohnzimmer hängt oder vielmehr hing: Es ist Bens einzige Erbschaft und vieldeutige Erinnerung an die Mutter, und ein wenig auch an sich selbst: "Man meint, man könnte die Wellen und die Brandung hören."

Mit Holland hat die Geschichte, die noch den Enkel berührt, viel zu tun: Nach dem Krieg hat es die Großmutter dorthin verschlagen, die Mutter ist dort aufgewachsen, Ben selbst, zwar in der Nähe von Hamburg groß geworden, hat in Amsterdam bleibende Eindrücke erfahren. Aber Familiensaga ist das keine, dazu fehlen die Männer, deren Absenz jedoch zum alles bestimmenden Narrativ wird. Das Unglück der Großmutter wiederholt sich in dem der Mutter, und den Sohn trifft es persönlich, muss er sich doch am Ende auf Spurensuche nach seinem Vater begeben. Sie beschert der Handlung den eigentlichen Überraschungseffekt oder jene "unerhörte Begebenheit", die erzählender Literatur erwiesenermaßen eignen muss.

Makaber und lakonisch

All das passiert erst mit und nach dem Tod der Mutter. Und schon dieser Anfang wäre "unerhört" genug: "Marlene, meine Mutter, deine Großmutter, ist in der Post verlorengegangen." So lautet der erste, naturgemäß suggestive Satz des Buches – wahrscheinlich gibt es keinen Roman, der so makaber und lakonisch beginnt. Tatsächlich ist die Mutter auf dem Postweg nach Amsterdam verschwunden, genauer gesagt ihre Urne, die Ben im Grab ihrer Mutter beisetzen will und die er selbst nicht über die Grenze schaffen darf. Also geht die Asche als eingeschriebenes Paket auf Reise – und trifft am Zielort nicht ein.

Ben wartet in einem Hotelzimmer, er wartet fünf Tage und schreibt einen langen Bericht an seinen Sohn in Wien; der ist zwar erst vier und wird das nicht verstehen, aber hier geht es ohnehin um ganz andere Zeiträume. Was so aufschreibenswert ist, liegt vierzig Jahre zurück – damals wurde Bens Vater, ein Spiegel-Reporter, in Kolumbien von Rebellen entführt und ermordet. So jedenfalls hat es die Mutter erzählt, und mit dieser Geschichte, diesem Narrativ des unglücklichen Frauenlebens, ist Ben aufgewachsen.

Bilder seiner Jugend

Dass es sich dabei um eine Lebenslüge handelt, wird dem Leser bald klar: Erkennbar ist der Roman auf Entschlüsselung angelegt, die ebenfalls in Amsterdam vonstatten geht – mit dem Auftauchen von Clara, einer ehemaligen Freundin der Mutter, die schließlich die wahre Geschichte erzählt. Parallel dazu läuft für Ben ein anderer Film ab, der ihm noch einmal Bilder seiner Jugend vor Augen führt – im wörtlichen Sinn jenes, das ihn als Aktmodell mit 17 Jahren zeigt. Damals ist er einer Malerin in Amsterdam Modell gelegen, und jetzt, 25 Jahre später, wo er auf die Asche seiner Mutter wartet, sieht er ausgerechnet dieses Aktbild auf einem Plakat, das eine Retrospektive der Malerin bewirbt. Natürlich ging es damals um mehr, schließlich hat sie ihn nicht nur gezeichnet, sondern ihm den "erstaunlichsten kleinen Tod seines Lebens" bereitet – und jetzt – was für ein Zufall – wird er noch einmal mit dem "Ozeanischen dieses Augenblicks" konfrontiert.

Ben strauchelt, das ist aber auch der Alkohol. Als er wieder zu sich kommt, hat er "den Geruch von Brackwasser in der Nase". Hat das auch mit dem Seestück, seiner "sprühenden Gischt" zu tun? Als Leser spürt man: Hier scheint die Geschichte zu entgleiten, da wirkt einiges aufgesetzt. Auch, dass Blom seinen Helden (und vermutlich sein Alter Ego) immer wieder aus der Realität in eine Traumparallelwelt abtauchen lässt, führt stellenweise zu einem Kontrollverlust der Romanwirklichkeit. Das Damals konstruiert nämlich überfleißig die Gegenwart: Natürlich begegnet Ben noch einmal der Frau, die ihm behilflich war, seine Unschuld zu verlieren, natürlich steht er ihr noch einmal als Aktmodell zur Verfügung, und natürlich geht es noch einmal "ozeanisch" zur Sache – was sind schon 25 Jahre! Nur dass der Liebesakt auch beim zweiten Mal genauso ausgespart bleibt: kein erzählerischer Höhepunkt in der Brandung. Stattdessen erfährt der Leser: "Nach seinem Besuch bei Rachel hatte er geduscht."

Organisation im Erzählgerüst

Vielleicht soll das Absicht sein, dass sich der Erzähler nicht zwischen Nah- und Fernsicht entscheiden kann. Es ist übrigens eine Mischung aus klassischer Ich- und Er-Erzählung, das wirkt dynamisch, aber erzählerisch nicht konstant genug. Passagen, in denen weitgehend nur referiert wird, stehen plötzlich allzu lyrische Textteile gegenüber, etwa: "Er malte melancholische Blumensträuße" oder "Das Dunkel tanzte auf dem Wasserspiegel und stand in den Straßen".

Es gibt noch andere Stellen, wo das Lektorat hätte eingreifen müssen ("Ich habe sie gerne gemocht"!) und auch für mehr Organisation im Erzählgerüst hätte sorgen können. Es gibt aber auch sehr gelungene Passagen, etwa wenn vom Sterben der Mutter erzählt wird. Das ist ganz realistisch und nicht von ungefähr überzeugend, Realismus ist bekanntermaßen Philipp Bloms angestammtes Terrain. Dass sich die Kritik bei ihm als Romancier nicht ganz sicher ist, zeigt bereits die Divergenz in einer simplen Streitfrage: Für die einen ist es Bloms erster Roman, für die anderen bereits sein dritter. Wie auch immer, fast alle Bücher Bloms sind nicht-fiktional, darin liegt auch seine Stärke: Der taumelnde Kontinent und Die zerrissenen Jahre sind eindrückliche Studien über Kultur und Gesellschaft zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Des Weiteren kennt und schätzt man Blom als Journalisten, als Übersetzer und hierzulande als wohltuenden Ö1-Moderator. Der Romancier ist noch etwas gewöhnungsbedürftig. (Gerhard Zeillinger, 14.1.2017)