Unvollkommene Schönheit: Die Experten sind einig, dass die Demokratie gehörig unter Druck geraten ist.

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Agnes Streissler-Führer: "Es zählt nur mehr die Wahrnehmung, nicht die Wirklichkeit."


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Oliver Vitouch: "Staaten können nicht zu Globalisierungsaussteigern werden."


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Ein Gespenst gehe wieder um in Europa. So düster beginnt die Arena-Analyse 2017. Der Titel des knapp 80-seitigen Befundes klingt dann schon ein wenig optimistischer und zukunftsfreudiger: "Demokratie neu starten". Wie jedes Jahr haben die Public-Affairs-Berater Kovar & Partner zahlreiche Experten – diesmal 61 – aus Politik, Wissenschaft, Justiz, Wirtschaft, Kultur, aus dem Gesundheitsbereich und aus der Zivilgesellschaft eingeladen, um sich zum Thema Gedanken zu machen.

Die These: Das Modell westlicher Demokratien komme durch innere und äußere Einflüsse immer mehr unter Druck: durch Finanzkrise, Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer, Verteilungsungerechtigkeit, Migrationsströme, Terroranschläge – aber auch neue Phänomene wie Echokammern in sozialen Netzwerken und überhaupt das "postfaktische Zeitalter", wo Lügen nicht mehr als solche erkannt und entlarvt würden.

Das sei vielen in dieser Dramatik nicht bewusst. Auch über die Auswege haben sich die Experten Gedanken gemacht: Ihre Vorschläge reichten von der Einführung von Bürgerräten, wie in Vorarlberg, bis hin zu Crowdsourcing bei demokratischen Reformen – etwa dem isländischen Versuch, sich eine neue Verfassung zu geben.

DER STANDARD hat stellvertretend zwei der 61 Experten, Agnes Streissler-Führer und Oliver Vitouch, zum Gespräch über die Zukunft der Demokratie gebeten. In einer Schwerpunktausgabe am kommenden Samstag, 21. Jänner, widmet sich die Redaktion einmal mehr ausführlich dem Thema "Demokratie unter Druck".

STANDARD: Braucht die Demokratie einen Neustart?

Oliver Vitouch: Ich sehe tatsächlich drei wesentliche Problemfelder für unsere Demokratie: Zunächst eine medial getriebene Negativspirale nach dem Motto "only bad news are good news". Zudem formieren sich die nationalistischen Populisten in Europa und den USA neu. Da sind wir dann schnell beim postfaktischen Zeitalter. Die Niederschwelligkeit der digitalen Kommunikation, die ihre guten Seiten hat, ist umgekehrt aber problematisch, weil sie Propagandisten Tür und Tor öffnet, bis hin zur Verhetzung.

Agnes Streissler-Führer: Ich stimme überein, es zählt nur mehr die Wahrnehmung, nicht die Wirklichkeit. Ich sehe auch das Zweigespann Nationalismus-Populismus: Das eigene Volk wird zum Maßstab aller Dinge gemacht. Besonders besorgt mich die Untergrabung der Institutionen der repräsentativen Demokratie. Dass uns mehr direkte Demokratie auch zu besseren Entscheidungen bringen würde, kann ich so nicht sehen. Unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist sehr komplex, da braucht es dann auch die Komplexität eines repräsentativen demokratischen Systems, damit Minderheiteninteressen angemessen vertreten sind. Dieser pluralistische Zugang zur Demokratie wird schlechtgeredet und allmählich abgebaut. Da muss man dagegenhalten.

STANDARD: Immer mehr Menschen konsumieren nur jene Nachrichten, mit denen sie ein Algorithmus versorgt, und kommunizieren nur mit Leuten, die ihrer Meinung sind. Was können klassische Medien dagegen ausrichten?

Vitouch: Das ist ein großes Problem, gewiss. Ich habe kürzlich selbst erlebt, wie gesteuerte Information funktioniert: Nach dem tätlichen Übergriff eines Identitären im Juni auf der Klagenfurter Universität habe ich mir gelegentlich Informationen dieser Gruppe auf Youtube angesehen. Irgendwann hat mich mein Smartphone dann mit der Pop-up-Empfehlung eines Identitären-Videos versorgt. Dieses Verstärken von Vorhandenem erfolgt automatisiert, und das kann dazu führen, dass einfache Erklärungsmuster für die Welt plus das einfache Finden von Sündenböcken verstärkt werden.

Streissler-Führer: Wir dürfen das nicht nur auf anonyme Algorithmen zurückführen. In den sozialen Medien vernetzt man sich mit Leuten, mit denen man auch in der realen Welt Kontakt hätte. In der realen Welt wird es nicht viele Trump-Wähler geben, die mit Clinton-Wählern befreundet sind und umgekehrt. Wir leben in einer Polarisierung, und die wird durch die sozialen Medien verstärkt.

Vitouch: Ein eigenartiges Phänomen ist, dass sobald etwas gedruckt ist, auch der subjektive Wahrheitsgehalt steigt. Man glaubt's, weil es in der Zeitung steht. Das gilt auch für halbwegs professionell gemachte Webpages.

Streissler-Führer: Deshalb müssen wir lernen, mit diesen Kulturtechniken besser umzugehen und zu unterscheiden: Was ist seriös und was nicht. Demokratie kann langfristig nur durch die drei Vs funktionieren: Vertrauen, Verantwortung, Vielfalt. Da geht es auch um die eigene Verantwortung: Was poste ich selbst, und wie nehme ich Nachrichten auf?

STANDARD: Das heißt, digitale Erziehung ab der Volksschule?

Streissler-Führer: Absolut.

Vitouch: Das wäre naheliegend bei den "digital natives". Ich glaube, dass man mit den Maßstäben von Vernunft und Aufklärung an gewisse Grenzen stößt, weil manche Menschen gar nicht vernünftig sein wollen. In den 1950er-Jahren entwickelte die Psychologie die Theorie der kognitiven Dissonanz. Wenn es zu viele Widersprüchlichkeiten im Gedanken- und Einstellungssystem gibt, dann fühlt sich das ungemütlich an. Daher suche ich einfache, angenehme Antworten. Jörg Haider hat damit lange und sehr erfolgreich agiert.

STANDARD: Jene, die sich bedroht fühlen durch Finanzkrise und Globalisierung und rechtspopulistisch wählen, sind in Wahrheit selbst schuld an ihrer Lage?

Streissler-Führer: Ob man seinen Arbeitsplatz behält oder nicht, liegt nicht nur an einem selbst. Populisten gelingt es aber, die völlig falschen Schuldigen zu finden. Daran, dass Menschen ihre Jobs verlieren, sind nicht "die Flüchtlinge" schuld. Und auch nicht "die Elite" – wir wissen nicht einmal genau, wer das sein soll. In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Ideologie breitgemacht, dass der Markt alles bestimmt. Hier geht es um guten alten Klassenkampf. Auf der einen Seite stehen jene, die ihr Einkommen durch Arbeit erzielen müssen, auf der anderen Seite jene, die es durch Renditen bekommen. Reden wir nicht schwammig von Eliten, die gegen "das Volk" arbeiten, sondern benennen wir die Interessengegensätze Arbeit und Kapital. Nur dann kann man produktiv an deren Beseitigung arbeiten.

STANDARD: Braucht es einen neuen Klassenkampf?

Vitouch: Es geht ganz stark um Verteilungsfragen, das war auch bei Trumps Wahl sichtbar. Die Trias Globalisierung, Digitalisierung, Automatisierung verschärft diese Verteilungsfragen noch weiter. Paradox daran ist, dass das auf einem hohen Wohlstandsniveau stattfindet, aber umso größer ist die Angst, da wieder herunterzufallen. Norbert Hofer hat bei den Arbeitern 85 Prozent Stimmanteil erzielt, Van der Bellen bei den Uni-Absolventen 83 Prozent. Da geht die Schere weit auseinander.

STANDARD: Sollen wir unsere Märkte also schützen und uns wieder auf die Insel der Seligen zurückziehen?

Vitouch: Das ist die Ansage, die Trump gemacht hat, aber das wird er nicht einlösen können. Staaten können nicht zum "Globalisierungsaussteiger" werden. Eine weitere Paradoxie: Der globale Wohlstand wächst, es geht den Menschen insgesamt so gut wie nie zuvor – gleichzeitig führt aber etwa der chinesische Wohlstand dazu, dass in anderen Weltregionen die Menschen schlechter dran sind, weil Produktionsstätten nach China verlegt wurden. Die Frage ist: Können wir von diesen Entwicklungen auch profitieren? Industrie 4.0 ist ein gutes Beispiel: Wir kriegen mehr Freizeit, und die Maschinen nehmen uns die Arbeit ab. Die Frage ist nur: Wem gehören die Maschinen, wie sind die Gewinne besteuert, und was machen wir mit den Arbeitern ohne Arbeit, die diese Produkte weiterhin kaufen sollen?

Streissler-Führer: Im Protektionismus liegt nicht die Lösung. Wir müssen die Hegemonie der Märkte brechen. Es braucht keine "marktfähige Demokratie", sondern einen demokratiefähigen Markt. Die demokratische Gesellschaft muss die Regeln vorgeben können – auf europäischer und internationaler Ebene. Der größte Luxus ist, dass wir in Europa schon lange in Frieden leben. Und das ist das Verdienst der EU.

STANDARD: Aber das schwindende Vertrauen in die EU ist ja nicht ohne Grund aufgekommen. Flüchtlinge, Finanzkrise, et cetera ... sehr oft findet die EU nur halbe Lösungen.

Vitouch: Endlich kann ich Churchill zitieren! "Democracy is the worst form of government, except for all those other forms that have been tried from time to time." Natürlich ist auch die EU nicht perfekt. Sie hat viel erreicht, aber sie ist in vielerlei Hinsicht unvollkommen. Die Rückkehr auf die Insel der Seligen ist aber nicht möglich. Wir können nicht sagen, wir spielen nicht mehr mit.

STANDARD: Immer mehr Politiker sprechen von der Notwendigkeit einer "wehrhaften Demokratie". Braucht es die?

Vitouch: Selbstverständlich muss ein Staat in dosierter Weise alle Attacken gegen die Grundprinzipien der Demokratie und der Freiheit abwehren. Das darf nicht in einen Überwachungsstaat kippen. Permanenter Alarmzustand verunsichert nur und macht die Welt nicht sicherer.

Streissler-Führer: In Artikel 2 des EU-Vertrages ist sehr gut zusammengefasst, worum es geht: Meinungsfreiheit, Menschenrechte, Solidarität, Pluralismus, Freiheit – das sind die Werte, die wir verteidigen müssen. Wir müssen die demokratischen Prozesse vorantreiben. Egal ob es nun um Schülerparlamente, betriebliche Mitbestimmung, Bezirks- oder Bundespräsidentenwahlen geht. Wir haben viele Möglichkeiten zu gestalten, ohne dass wir über Waffen oder Überwachungskameras nachdenken müssen.

Vitouch: Das gefällt mir. Besonders Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Ihre Kehrseite ist freilich das Phänomen der Hasspostings, die wir mittlerweile in überbordendem Ausmaß erleben. Da müsste man dringend gegensteuern. Es gibt in der Sozialpsychologie seit 50 Jahren Arbeiten darüber, dass Maskierung und Anonymisierung zu den eigenartigsten Verhaltensweisen führen. Man muss ein Klarnamenprinzip einführen, denn ein Recht auf anonyme Meinungsäußerung, noch dazu in aggressiv beschimpfender Form, besteht in der Demokratie nicht. (Petra Stuiber, 15.1.2017)