
Seit 1994 ist Martin Schulz Abgeordneter im EU-Parlament, sieht sich neben Jean-Claude Juncker als "Mister Europa".
Er werde sicher "kein bequemer Präsident sein" und auf jeden Fall einer, der das Europäische Parlament im Verhältnis zu den Staats- und Regierungschefs mit Zähnen und Klauen verteidigt, gegen deren Deals "hinter verschlossenen Türen". Nach Jahren der Krisen und Rückschläge gelte es, "das Vertrauen der Bürger in das europäische Einigungswerk wiederzugewinnen" – vor allem der Jungen.
Mit Ansagen wie diesen hat Martin Schulz am 17. Jänner 2012 den EU-Abgeordneten in seiner Dankesrede im Plenum in Straßburg eine neue verschärfte politische Gangart – kurz: mehr Macht und Einfluss – versprochen. Er wollte für sie "streiten", "Begeisterung für Europa wecken".
Diese hatten ihn, den Fraktionschef der Sozialdemokraten, zuvor mit 385 Stimmen von damals 754 Abgeordneten zu ihrem Präsidenten gewählt. Eine solche Mehrheit war nicht berauschend groß. Aber immerhin konnte Schulz sich im ersten Wahlgang durchsetzen, gegen mehrere Gegenkandidaten von Konservativen und Liberalen in einem parteipolitisch und (mit damals 27 Mitgliedstaaten) national breit gefächerten Parlament.
Koalition als wichtigstes Kapital
Vor allem durfte sich der Deutsche auf das wichtigste Kapital stützen, das fast alle 16 EU-Parlamentspräsidenten seit der Einführung der Direktwahl 1979 hatten: auf eine Koalition von Christdemokraten (EVP) und Sozialdemokraten (S&D). Sie bilden traditionell eine breite Mehrheit, bestimmen die Politik in Kommission und im Rat der Regierungschefs, "teilen" sich die Amtszeit des Parlamentspräsidenten in einer Legislaturperiode. So löste Schulz 2012 in großkoalitionärer Harmonie den EVP-Mann Jerzy Busek aus Polen ab, zweieinhalb Jahre zuvor als erster Osteuropäer in dieses Spitzenamt gewählt.
Auf den Tag genau fünf Jahre später endet nun am Dienstag die Amtszeit von Schulz. Ihm war es (nach den EU-Wahlen 2014, bei denen er als SP-Spitzenkandidat dem Christdemokraten Jean-Claude Juncker unterlag) als Erstem überhaupt gelungen, ein zweites Mal an die Spitze der Volksvertretung in Straßburg wiedergewählt zu werden. Nicht nur deshalb besteht fraktionsübergreifend Übereinstimmung, dass mit seinem Abgang in die deutsche Innenpolitik eine Ära zu Ende geht.
Schulz, König der Medien
Die Rolle des Parlaments im Verhältnis zu anderen EU-Institutionen wurde neu definiert – im Positiven wie im Negativen. Schulz' Bilanz fällt gemischt aus. Dem "Mister Europaparlament", der sich aufgrund seines ausgeprägten Machtwillens und Dranges zur öffentlichen (Selbst-)Darstellung nicht wenige Gegner gemacht hat, wird zugestanden, dass das Parlament insgesamt mehr wahrgenommen wird als früher.
Welches Thema in den vergangenen Jahren auch anstand, ob Eurokrise, Türkeiverhandlungen oder Migrationswellen seit 2014: Schulz war stets einer der Ersten, der sich wortmächtig äußerte, die Mitbestimmung des Parlaments einforderte. Er tat dies selten uneigennützig, was ihm Vorwürfe einbrachte, dass er den politischen Prozess zur Eigenprofilierung missbrauche, die Positionen der Fraktionen "zudecke".
Noch schlimmer das Urteil der Kritiker: Mit diesem Präsidialstil, einer Art Exekutivparlamentarismus, habe er seit der Wahl der Juncker-Kommission Ende 2014 selbst vieles zugedeckt; auf informeller Ebene Dinge "ausgepackelt".
Die beiden können für sich im Gegenzug in Anspruch nehmen, dass sie die EU mit Vehemenz gegen nationalistische Tendenzen in manchen Mitgliedstaaten und Rechtspopulisten verteidigt haben. Schulz förderte den Diskussionsprozess, er lud Regierungschefs persönlich ins Plenum zu Debatten mit den EU-Abgeordneten ein – ein Novum. Legendär wurde der öffentliche Streit mit dem ungarischen Premier Viktor Orbán. Der Auftritt von Papst Franziskus im Herbst 2014 war ein großer Erfolg von Schulz.
Politisch hinterlässt der überstarke Präsident ein schwieriges Erbe. Weil er entgegen einer Abmachung mit der EVP eine dritte Amtszeit durchsetzen wollte, zerbrach zuletzt die informelle Große Koalition. Wie berichtet, werden EVP wie S&D mit Antonio Tajani und Gianni Pittella eigene Kandidaten in eine Kampfabstimmung um die Nachfolge schicken. Die Zeit demonstrativer Einigkeit scheint vorbei. Die Fraktionen kommen wieder stärker zur Geltung. (Thomas Mayer aus Brüssel, 16.1.2017)