Kenneth Lonergan (54), geboren in der Bronx, arbeitete als Redenschreiben, bevor er sich der Literatur zuwandte. Er ist Dramatiker und Filmregisseur.

Foto: Robert Newald

STANDARD: Sie stellen dem Trauma Ihres Helden jene noch frische Trauer seines Neffen Patrick gegenüber. Ist Trauerarbeit für Sie das zentrale Thema des Films?

Kenneth Lonergan: Mich interessieren immer zuerst die Charaktere. Von den kleinen Bildern versuche ich dann zu den größeren vorzudringen. Besonders gut gefiel mir die Idee, wie Chandler jeder Situation gerecht zu werden versucht, obwohl er als Mensch so beschädigt ist. Er bringt seinem Neffen Pizza, er hört ihm zu – aus einer seltsamen Distanz -, und er will ihm Schutz bieten.

STANDARD: In "Margaret" haben Sie von einer ganzen Reihe an Figuren aus New York erzählt, nun sezieren Sie ein Städtchen am Meer. Hier wie dort geht es um vielschichtige Relationen, nicht wahr?

Lonergan: Ein einsamer Mensch, der die ganze Welt gegen sich hat, das fände ich langweilig. Es sind immer andere Leute, die den Konflikt bestimmen, insofern ist es eigentlich ganz natürlich, sich einer Geschichte über mehrere Achsen anzunehmen wie in Margaret. In Manchester by the Sea geht es mehr um einen Mann, der mit der Ungeheuerlichkeit seiner Trauer zurechtkommen muss. Beziehungsweise mit der Ungeheuerlichkeit eines Lebens, von dem er wünschte, dass es einfach aufhören würde.

STANDARD: Es ist bemerkenswert, wie Sie Vergangenheit und Gegenwart nebeneinanderlaufen lassen. Wie ist diese Struktur entstanden?

Lonergan: Die erste Fassung war noch chronologisch, aber das hat auf mich zu flach gewirkt. Ich hatte auch noch keine greifbare Idee, wie Chandlers Figur genau sein soll. Dann habe ich mit der Szene begonnen, wie er Schnee schaufelt, und plötzlich hatte ich eine bessere Idee davon, wer er ist, wie er aussieht, und wie er sich verhält. Das Material über die Vergangenheit, das ich schon geschrieben hatte, habe ich dann in Form von Flashbacks eingefügt. Das hat sich nach einer soliden Struktur angefühlt.

STANDARD: Kann man diese Flashbacks auch als Statement über das Gewicht eines Ereignisses verstehen, das fortwirkt?

Lonergan: Es ist kein Statement, es fühlte sich einfach richtig an. Chandlers Gedanken würden wohl so laufen. Alles kann freilich eine Erinnerung stimulieren. Er fährt nach Hause, natürlich denkt er über all die Gründe nach, warum er dort nicht sein will und was er alles verloren hat. Und als er einen Streit mit seinem Neffen hat, denkt er daran, was sein Bruder für ihn getan hat und wie nett das von ihm war. Ich wollte nicht zu schematisch damit werden, aber meine Cutterin sagte, es gefällt ihr, weil es eigentlich keine Rückblenden sind, sondern zwei parallel erzählte Geschichten. Man kann mehrere Erfahrungen zugleich machen.

STANDARD: Sie schrieben zunächst fürs Theater. Sie haben gesagt, dass der Umstieg auf Drehbücher für Sie gar nicht so einfach war. Warum?

Lonergan: Weil mir Sätze wie "Das Schiff fährt den Fluss herunter" schwerfallen. Mir fehlt das Selbstvertrauen, solch bildliche Szenen ins Drehbuch zu schreiben. Ich muss die Baustelle sehen, um zu wissen, wie ich mit ihr umgehe. (Dominik Kamalzadeh, 20.1.2017)