Die ganze Nacht ist Taavi Tuisk durchmarschiert. Im Morgengrauen hat er Sprengfallen entschärft und sich vor feindlichen Truppen versteckt. Jetzt ist er über eine Landkarte des Gegners gebeugt. Keine leichte Aufgabe, wenn man bereits 35 Kilometer in den Beinen hat und gerade mal 20 Minuten geschlafen hat. Und dann ist die Karte auch noch auf Kyrillisch.

Der Osten Estlands: verschneite Hügel, Birkenwälder, Sümpfe. Es weht ein eisiger Wind bei Minusgraden. Einmal im Jahr wird hier ein militärisches Überlebenstraining abgehalten. Warum die feindlichen Stellungen auf der Karte auf Russisch geschrieben sind? "Dass die Russen unsere Feinde sind, ist nun mal ein Szenario, das wir oft durchspielen", lacht Tuisk.

Übung mit historischem Hintergrund aus aktuellem Anlass: Russlands Vorgehen in der Ukraine sorgt in den baltischen Ländern für Ängste – und dafür, dass sich mehr Bürger an den Waffen ausbilden.
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Der 39-jährige Familienvater – drahtige Statur, freundliche Art, schwarze Hornbrille – arbeitet in einer Berufsschule auf der Insel Saaremaa. "So kann ich einen kleinen Beitrag leisten, um mein Land zu verteidigen", sagt er.

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Mit der Übung soll an die Schlacht in Utria von 1919 erinnert werden, als estnische und finnische Guerillakämpfer die Rote Armee aus einem Hinterhalt in die Flucht geschlagen haben – eine Schlacht, die bis heute als Sieg im "Estnischen Unabhängigkeitskrieg" gefeiert wird. 1940 wurden die baltischen Staaten infolge des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetmacht annektiert. Heute sind die Partisanen modern ausgerüstet: Sturmgewehr, Schneetarnanzug, Stirnlampen und GPS. 28 Teams messen sich im Partisanenkampf: Beschuss orten, mit dem Maschinengewehr schießen und Verwundete versorgen.

Kartenstudium mit Strirnlampe
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Die russische Aggression in der Ukraine hat im Baltikum alte Ängste geweckt. Nicht ohne Grund: Immer wieder kommt es im baltischen Luftraum zu Verletzungen durch russische Militärflugzeuge. Seit 2014 ist die Zahl der estnischen Paramilitärs um zehn Prozent nach oben gegangen, auf aktuell knapp 16.000 Männer und Frauen.

Mit den Jugendorganisationen kommt der "Nationale Verteidigungsbund" ("Kaitseliit"), der dem Freiwilligenverband der Streitkräfte angehört, sogar auf 25.600 Mitglieder, das ist etwa jeder 50. Bürger Estlands. Die estnische Armee zählt dagegen nur 6000 Mann. Auch in Litauen und Lettland haben Freiwilligenorganisationen seit 2014 einen starken Zuwachs verzeichnet.

Rüsten für den Ernstfall

Einen "Sicherheitsteppich" nennt das Sprecher Neeme Brus: "Wir haben Kämpfer in jeder Stadt, jedem Dorf, ja, fast jedem Haus." Die Selbstverteidiger sind keine Hysteriker oder Militärfanatiker, sondern Lehrer, IT-Entwickler, Studenten und Unternehmer. "Es geht nicht darum, dass ich Angst vor einem Krieg habe", sagt die 29-jährige Kellnerin Ruth aus Tartu, die zum ersten Mal teilnimmt. "Aber wenn eines Tages doch etwas passieren sollte, ist es gut, gewisse Dinge zu wissen."

Schießübungen
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Dass der designierte US-Präsident Donald Trump die Rolle der Nato zuletzt mehrmals in Frage gestellt hat, wird hier mit vorsichtiger Sorge gesehen. Immerhin sprechen die Fakten am Boden eine andere Sprache: Im Baltikum werden derzeit mit der Nato-Aktion "Enhanced Forward Presence" knapp 2000 Nato-Soldaten stationiert, in Polen sind kürzlich rund 4000 US-Soldaten gelandet.

Dieser Tage wurde zudem ein bilaterales Militärabkommen zwischen Estland, Lettland, Litauen und den USA geschlossen. Was Nato-Kritiker als "Säbelrasseln" bezeichnen, sehen die Balten – seit 2004 Nato-Mitglieder – als Garantie für ihre Unabhängigkeit. "Ich habe großes Vertrauen in die Checks and Balances des US-Systems und zweifle nicht an ihrer Bereitschaft, die Weltordnung zu sichern", so Kaitseliit-Kommandant Meelis Kiili.

Abschreckende Alarmanlage

Die Übung endet in der Stadt Narwa, direkt an der russischen Grenze. Am gleichnamigen Fluss erhebt sich auf estnischer Seite die mächtige Hermannsfeste, im Mittelalter von den Dänen gegründet, später an den Deutschen Orden verkauft. Die Sorgen um ein "Donbass-Szenario" – über das vor allem in Hinblick auf die russische Minderheit, die hier mehr als 90 Prozent der Einwohner stellt, immer wieder spekuliert wurde – haben sich als völlig unbegründet erwiesen.

Zu groß sind ihre Privilegien als EU-Bürger, trotz einer umstrittenen Minderheitenpolitik der Esten. Die Teams erklimmen mit letzter Kraft die Festungsmauern, während Gewehrfeuer von den Zinnen donnert. Von drüben, der anderen Seite des Flusses, der Stadt Iwangorod, weht schon die russische Fahne.

Ist doch alles nur eine Abschreckung? "Wenn Sie eine Alarmanlage in ein Haus oder eine Wohnung einbauen, werden Sie auch keine 100-prozentige Garantie gegen Einbrecher haben", sagt Madis Milling, der für die Reformpartei im estnischen Parlament sitzt, zum STANDARD. "Aber der Einbrecher wird es sich zumindest zwei Mal überlegen. Russland muss verstehen, dass es sich nicht lohnt, Estland anzugreifen." (Simone Brunner aus Narwa, 20.1.2017)