Macht der Chef Platz?

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Denkt man an klassische Zusammenarbeit in Unternehmen, haben wahrscheinlich nur wenige Menschen dabei ein Rugby-Match vor Augen. Eine Standardsituation aus diesem Spiel verleiht aber einer – gar nicht mehr so neuen – Organisationsform ihren Namen: Im angeordneten Gedränge, auf Englisch "scrum", wird das Spiel nach kleineren Regelverstößen neu gestartet. Die Spieler stellen sich einander gegenüber auf, verschachteln sich dann ineinander und versuchen auf Anordnung des Schiedsrichters durch gemeinsames Drücken den Gegner wegzuschieben, um den Ball für das eigene Team freizugeben. Vom Sportplatz ins Unternehmen übertragen, meint die Analogie, dass Teams als kleine, selbstorganisierte Einheiten arbeiten und von außen nur eine Richtung vorgegeben bekommen – die Taktik, wie sie das Ziel erreichen, bestimmen die Teams aber selbst.

Unternehmer, die sich dafür entschieden haben, Prozesse nicht mehr hierarchisch, sondern agil zu gestalten, sprechen gerne vom "Ende des Managements, wie wir es kennen".

Prinzip Holacracy

Das sagt auch Brian Robertson mit seinem Buch über Holacracy – dem derzeit vermutlich meistdiskutierten Werk zur Neugestaltung von Organisationen. Es geht um ein "neues Betriebssystem für Organisationen" , das vor allem auf eines abzielt: Arbeit zu organisieren und nicht die Menschen, die diese Arbeit verrichten. Damit wird Holacracy zu einer Organisationspraxis, der ein fundamental anderes Paradigma zugrunde liegt. Während herkömmliche Organisationen seit über 100 Jahren versuchen, Koordination und Ordnung über Managementhierarchien zu erreichen, basiert Holacracy auf den Prinzipien der verteilten Autorität und Selbstorganisation.

Die Grundidee: In einem über Holacracy organisierten Unternehmen hat ein Organisationsmitglied keine hierarchische Position, sondern meist mehrere Rollen. Verschiedene Rollen, die zur Erfüllung von Aufgaben zusammengehören, werden in sogenannten Kreisen zusammengefasst. Organisationsmitglieder gehören häufig mehreren Kreisen an, daher handelt es sich bei Kreisen auch nicht um Teams. Führung wird bei Holacracy ganz anders konzipiert: So etwas wie "meine Chefin" oder "mein Mitarbeiter" gibt es nicht mehr. Autorität wird verteilt, d. h. einzelne Rollen tragen Letztverantwortung für Entscheidungen. Alle Führungs- und Koordinationsaufgaben werden in mehreren Rollen und Prozessen strukturiert. Und in speziell designten Meetings werden Entscheidungen nach neuen Spielregeln getroffen. Die Verantwortung bleibt dabei bei der jeweiligen Rolle, und gleichzeitig kann die Gruppe bei Entscheidungen mitwirken.

Junge wollen keinen Chef

Holacracy hat ihre Wurzeln in der Soziokratie und in agilen Bewegungen wie eben Scrum.

Rundherum und in ihrem Gefolge ist viel die Rede von "demokratischer Organisation" in Unternehmen, von Augenhöhe, Mitbestimmung und -gestaltung. Die gute alte Mitarbeiterbefragung soll auch nur mehr dort eingesetzt werden, wo mit den Ergebnissen tatsächlich etwas gemacht wird. Und überhaupt: Die jungen Generationen wollen ja sowieso keinen Chef mehr und nehmen Funktionen, gespeist mit dem Wissen und der Expertise von gestern nicht mehr ernst – höchstens um permanent Feedback und Anerkennung zu erhalten. Plus: Die Teilung in jene, die Chefs sind, denken und anschaffen und jene, die keine Chefs sind und nicht denken und ausführen, ist eh von vorgestern.

Dazwischen arbeiten schon Pioniere, bei denen die Führungskräfte tatsächlich "von unten" gewählt werden oder die ihre Bosse gleich ganz abgeschafft haben.

Zieht tatsächlich Demokratie in Unternehmen ein? Matthias Lang, "evolutionary catalyst", also Gründer und Miteigentümer des Holacracy-Beratungsunternehmens dwarfs and giants, appelliert zur Vorsicht bei begrifflichen Schubladen zwischen "den Polaritäten Hierarchie und Demokratie". Ja, die Verteilung von Verantwortung in Organisationen ändere sich gerade, allerdings erinnert er an die Motive dafür: Firmen wollen und müssen agiler, flexibler, "antwortfähiger" werden, dazu auch Kaskaden hierarchischer Freigaben umgehen und folglich Macht (etwa an Teams) abgeben. Zudem gehe es um Mitarbeiterzufriedenheit und Sinnerleben durch Entscheidungsfreiräume und natürlich auch um die Attraktivität als Arbeitgeber mit neuen "demokratischen" Schlagworten.

Selbstführung statt Führung

Interessant dazu der Hernstein-Management-Report (750 befragte Manager): Das Gros sagt, der stärkste Veränderungsdruck komme nicht von der Digitalisierung oder vom Markt, sondern "von innen mit Ansprüchen an Teilhabe, Mitbestimmung und Selbstorganisation".

Die Befragten gehen davon aus, dass Führung dezentraler wird, sich die Hierarchien verflachen und klassische Linienführung von Führung durch Projekte und laterale Führung ersetzt wird. 30 Prozent erwarten, dass klassische Führung ganz durch Selbstführung ersetzt wird. (Karin Bauer, XX.1.2017)