Yascha Mounk.

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Die Scheinheiligkeit des Westens in geopolitischen Fragen möchte der Spanier Escif thematisieren. Er bezieht Position gegen Waffenhandel, Neokolonialismus und korrupte Machenschaften. "Blood for Oil" (Blut für Öl) heißt sein Wandgemälde in Valencia.

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STANDARD: Sie studieren Gefahren für Demokratien. Wie fortgeschritten ist die Krise der Demokratie?

Mounk: 2016 war ihr bisheriger Höhepunkt. Meine Befürchtung ist, dass noch einige bittere Jahre auf uns zukommen.

STANDARD: 2016 wird oft mit 1914 verglichen. Halten Sie diesen historischen Vergleich für passend?

Mounk: Ich bin nicht sicher, ob das die wirklich passende historische Analogie ist, aber wenn, dann befinden wir uns eher im Jahr 1913 als im Jahr 1914. 1914 war der Krieg bereits ausgebrochen. Momentan sind wir in der Situation, dass wir die Grundbedingungen für schlimme Entwicklungen geschaffen haben, aber diese Entwicklungen selbst noch auf sich warten lassen.

STANDARD: Sie untersuchen die Einstellungen der Menschen Demokratien gegenüber. Hat Sie der Sieg von Donald Trump überrascht, oder ist er für Sie absehbar gewesen?

Mounk: Schockierende Ereignisse waren historisch meist sowohl überraschend als auch absehbar. Im Nachhinein lassen sich die Gründe, die dazu geführt haben, nachzeichnen. Trotzdem will man unmittelbar, bevor etwas geschieht, nicht wahrhaben, dass radikale Veränderungen vor der Tür stehen könnten. Dass Populisten auf dem Vormarsch sind, überrascht mich nicht. Weil ich gesehen habe, wie sehr die Menschen mit der Demokratie hadern, wie offen sie für Experimente geworden sind und wie viel Ärger seit 15, 20 Jahren vorhanden ist. Aber dass ein so extremer Politiker wie Donald Trump in den USA so schnell an die Macht kommen kann, das hat mich dennoch überrascht – und schockiert.

STANDARD: Sie haben Trumps Sieg als "schlimmsten Tag für die liberale Demokratie und für westliche Werte" bezeichnet. Warum?

Mounk: Erstens sind unsere demokratischen Systeme nicht so sehr gegen Regierungschefs und Präsidenten mit autoritären Instinkten gewappnet, wie wir denken. Trump könnte also machen, was Populisten etwa in Polen oder Ungarn schon seit Jahren machen: unabhängige Institutionen wie die Gerichte oder die Staatsbürokratie politisieren, gegen Meinungsfreiheit vorgehen, Repressalien gegen politische Gegner durchführen, am Wahlsystem drehen oder es für Minderheiten schwieriger gestalten, an Wahlen teilzunehmen.

STANDARD: Und die zweite Gefahr?

Mounk: Trump ist nicht nur ein der Demokratie gegenüber kritischer Regierungschef in einem kleinen Land, er ist der Anführer der sogenannten freien Welt. Damit befinden wir uns zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg – vielleicht sogar seit Erfindung der Demokratie – in der Situation, dass der Präsident des mächtigsten Landes der Welt größere Sympathien für autoritäre als für demokratische Länder haben dürfte.

STANDARD: Der Westen wird sich in Zukunft mehr an China oder Russland orientieren?

Mounk: Derzeit befindet sich die liberale Weltordnung in Existenzgefahr. Das mag Kritiker Amerikas freuen. Aber die Idee, dass eine Weltordnung unter Führerschaft Russlands, Chinas und des Iran besser oder menschlicher wäre als eine, die von den USA bestimmt wird, ist illusorisch. Sieht man, wie diese Länder mit ihrer Bevölkerung umgehen und mit welcher Gewalt sie sich international durchsetzen, dann sollte uns das eine Menge Angst machen. Sollten die USA in 20, 30 Jahren in der Welt weniger bestimmen, als sie es in den letzten fünfzig Jahren getan haben, dann werden viele Menschen plötzlich Nostalgie für eine Ära empfinden, die sie lange kritisiert haben.

STANDARD: Warum gerät die Demokratie derzeit an so vielen Orten gleichzeitig in Gefahr?

Mounk: Die große Versuchung ist, auf jedes Land einzeln zu schauen und spezifische Gründe zu finden. Diese sind zwar zunächst einmal plausibel. Dass diese globale Krise der Demokratie entstanden ist, weil 40 verschiedene Gründe in 40 verschiedenen Ländern jeweils durch Zufall dasselbe Resultat produziert haben, halte ich hingegen nicht für plausibel.

STANDARD: Wie ist die Krise der Demokratie mit der Krise des Kapitalismus verbunden?

Mounk: Die Wirtschaft ist einer von drei Faktoren. In stabilen liberalen Demokratien hat der Durchschnittsbürger immer von einer Generation zur nächsten eine Verbesserung der Lebensqualität erlebt: In den USA hat sich diese von 1935 bis 1960 verdoppelt und von 1960 bis 1985 noch einmal verdoppelt. Seit 1985 aber stagniert sie. Das verändert die Sicht der Menschen auf Politik. Der zweite Grund hat mit Identität zu tun: Demokratien sind monoethnisch, monokulturell gegründet worden. Es ist kein Zufall, dass die Demokratie in Österreich oder Deutschland gerade dann Fuß gefasst hat, als die Gesellschaft so homogen war wie nie zuvor – aufgrund des Zweiten Weltkriegs, des Holocaust, der Vertreibung. Diese Gesellschaften müssen ihre Identitäten neu erfinden, da sie multiethnisch und multikulturell geworden sind. Der dritte Grund ist die Geografie: Städtische und ländliche Gebiete stimmen sehr unterschiedlich ab, weil sie sich voneinander abgekoppelt haben. Zu diesen Faktoren kommt eine riesige technologische Revolution hinzu, die als eine Art Katalysator wirkt.

STANDARD: Populistische Parteien wie die AfD oder Italiens Fünf-Sterne-Bewegung bezeichnen sich als Sprachrohr der Bevölkerung und Verteidiger der Demokratie. Was wollen deren Anhänger: mehr, weniger, eine andere Demokratie?

Mounk: In Europa meinen wir mit "Demokratie" oft viele Dinge gleichzeitig. Es ist hilfreich, sich zu erinnern, dass unser politisches System aus zwei Bestandteilen besteht: Liberalismus und Demokratie. Demokratie meint die Mechanismen, den Willen des Volkes in Politik umzusetzen. Was unser System attraktiv macht, ist, dass es gleichzeitig liberal ist, die Rechte des Einzelnen respektiert. Derzeit sehen wir ein Zerfallen des Systems in seine Bestandteile. So entsteht ein "undemokratischer Liberalismus": Der Rechtsstaat waltet zwar, die Eliten aber haben sich vom Volk abgekoppelt. Dagegen wird momentan rebelliert. Die AfD ist sehr illiberal eingestellt: Sie hetzt gegen Einwanderer, möchte den Rechtsstaat zum Teil aushöhlen, legt aber gleichzeitig auf Demokratie im engeren Sinne des Wortes sehr viel Wert. Sie spricht sich für mehr Volksabstimmungen aus, weil sie weiß, dass ein Großteil der Bevölkerung die Rechte seiner Mitbürger tatsächlich einschränken möchte. Es handelt sich also um eine "illiberale Demokratie".

STANDARD: Wie holt man ihre Anhänger zurück?

Mounk: Es ist sehr schwierig, ideologische Grundfesten für etablierte Politik zu schaffen, die gleichzeitig auch visionär sind. Viele entscheiden sich lieber fürs Neue, selbst wenn sie dabei Bedenken haben. Wer Populisten bezwingen möchte, muss für die liberale Demokratie einstehen, muss erklären, dass vieles in unserem System durchaus bewahrenswert ist, und gleichzeitig einiges verändern wollen, vor allem in wirtschaftspolitischer Hinsicht.

STANDARD: Neben der linken Syriza in Griechenland oder der weder rechts noch links anzusiedelnden Fünf-Sterne-Bewegung in Italien gelingt es vor allem der Rechten in Europa, Unzufriedenheit abzufangen, obwohl diese auch kein Gegenmittel präsentiert. Warum ist das so?

Mounk: Die Linke hat es nicht geschafft, eine klare wirtschaftliche Vision zu entwickeln, die den Menschen Hoffnung gibt. Die Sozialdemokratie hat in ihrer frühen Phase gesagt: "Wir wollen anders als die Kommunisten nicht die repräsentative Demokratie abschaffen, aber wir machen den Menschen Hoffnung auf ein anderes Leben. Wenn sie für uns stimmen, dann werden sie zehn statt 14 Stunden pro Tag arbeiten, Pensionen haben, einen Arzt besuchen können." Etwas Ähnliches bräuchte die Linke heute: eine Vision, wie sie das Leben der Menschen spürbar verbessern würde. Und da sie das nicht hat, sind die Leute umso anfälliger für die einfache Alternative, fürs Schüren von Angst und Neid.

STANDARD: Zuletzt wurde Österreich dafür gefeiert, dass sich die Wähler nur knapp gegen einen Rechtspopulisten entschieden haben.

Mounk: Österreich ist mir ein sehr liebes Land. Aber wenn Österreich zum großen Helden der Demokratie erklärt wird, nur weil sich knapp über die Hälfte der Wähler gegen einen Rechtspopulisten entschieden hat, dann sagt das weniger über Österreich aus als über den maroden Zustand der Demokratie an sich. Vor fünf Jahren hätte man ein solches Wahlergebnis noch als unglaublich empfunden, nun wird er von den moderaten Kräften als Erfolg gefeiert.

STANDARD: Laut Ihren Studien sind vor allem Junge der Demokratie weniger verbunden. Warum?

Mounk: Junge Menschen haben heute weniger vom System, als sie es einmal hatten, und sind diesem dementsprechend weniger verbunden. Dass gerade Jüngere, die nicht wissen, was es bedeutet, unter autoritären Gesellschaften zu leiden, vielleicht in den nächsten Jahren Erfahrung mit alternativen Demokratien machen könnten, könnte aber auch dazu führen, dass sie als Reaktion ein viel glühenderes Bekenntnis zur Demokratie ableiten werden.

STANDARD: Die Krise kann auch in etwas Positives umschlagen?

Mounk: Das ist die Hoffnung. Es ist durchaus möglich, dass negative Konsequenzen des Populismus langsam zutage treten werden – und sich Menschen schließlich darauf besinnen werden, wie gefährlich solche politischen Experimente sind. Einige von ihnen werden dann vielleicht zu dem System, dessen Vorteile sie einst für selbstverständlich hielten, zurückkehren. Das pessimistische Szenario aber lautet, dass die ökologisch-gesellschaftlichen Grundbedingungen, unter denen liberale Demokratie bisher möglich war und stabil werden konnte, nicht mehr gegeben sind. Und dass wir jetzt – egal wie stark wir in den nächsten Jahren dagegen kämpfen werden – am Anfang des Endes der liberalen Demokratie stehen.

STANDARD: Sie haben in einer Studie eine Art Frühwarnsystem für Demokratien entwickelt. Stimmen heute mehr Menschen mit Ihnen überein, dass wir einen Rückgang demokratischer Einstellungen erleben? Wird Ihr Schwerpunkt heute anders wahrgenommen als noch vor ein paar Jahren?

Mounk: Absolut. Bis vor einem Jahr hatte ich oft das Gefühl, dass andere meine Argumente zwar durchaus interessant fanden und mir gerne zugehört haben. Aber sie hielten mich auch für ein bisschen schwarzmalerisch. Vielleicht dachten sie sich ab und zu sogar, ich sei nicht ganz bei Sinnen. Mittlerweile hat sich diese Frage beantwortet. Es ist mittlerweile klar, dass die Demokratie, wenn sie einmal erreicht ist, nicht unbedingt für immer und ewig stabil bleibt –sondern dass wir für sie kämpfen müssen. Es gibt gewöhnliche und außergewöhnliche Zeiten. In Europa haben wir aus der Geschichte heraus noch ein Gefühl dafür, was es bedeutet, in außergewöhnlichen Zeiten zu leben – in Zeiten, in denen es in der Politik um Frieden oder Krieg, um Tyrannei oder Selbstbestimmung und letztlich auch um Leben oder Tod geht. Aber die meisten von uns haben diese Zeit nicht mehr erlebt. Jetzt steuern wir wieder auf außergewöhnliche Zeiten zu, wie es sie in der Geschichte oft gegeben hat. Wir müssen umdenken, weil wir nicht davon ausgehen können, dass unsere Zukunft in 30 Jahren automatisch so aussehen wird wie unsere Gegenwart. (Anna Giulia Fink, 20.1.2017)