Eine Ladung voller Dreck.

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Wir leben in einer zunehmend komplexen Welt, in der durch die Globalisierung alles mit allem verbunden ist, sich nichts mehr singulär betrachten und kaum noch etwas klar bestimmen lässt. Erst recht nicht die Wahrheit. So lautet die These des britischen Filmemachers Adam Curtis in seinem neuesten Werk "HyperNormalisation".

Politik und Wirtschaft seien schon vor langer Zeit dazu übergegangen, es erst gar nicht mehr mit der Vermittlung von Fakten zu versuchen, sondern uns Geschichten zu erzählen, die gerade so weit mit Fakten bestückt sind, dass man sie nicht sofort als Fiktion entlarven kann. Wer die bessere Geschichte hat, gewinnt. Umfragen, Wahlen, das Vertrauen der Bevölkerung. Natürlich klingt dieser verschwörungstheoretische Befund von Curtis selbst verdächtig stark nach einer Verschwörungstheorie. Aber ist er deshalb ganz von der Hand zu weisen?

Die Trennlinie zwischen Fakten und Inszenierung war in der Politik stets situationselastisch. Dort wird etwas ausgeschmückt und überspitzt dargestellt, hier etwas weggelassen oder uminterpretiert, bis die Tatsachen sich schön in die politische Agenda fügen. Das ist weder neu noch ein Skandal – sondern politische Praxis. Und den Bürgern seit jeher bekannt.

Aber man muss nicht umgeben sein von Politberatern und PR-Agenten, die mit Fachbegriffen wie "Framing" oder "Spin" um sich werfen, um den Eindruck zu gewinnen, dass sich etwas verändert hat. Dass immer öfter Extrempositionen strapaziert werden und damit einhergehend auch die Polarisierung der öffentlichen Meinung zunimmt. Dass die Digitalisierung das Angebot an Meinungen und Journalismus bzw. journalismusähnlichen Produkten vervielfacht und aus aufmerksamkeitsökonomischen Gründen dazu geführt hat, dass die sachlich fundierte Analyse immer mehr abnimmt. An ihre Stelle treten das Drama, der Skandal, die Katastrophe.

Realität wird zu Fake

Vergleicht man zu einem beliebigen Sachverhalt die Berichterstattung konservativer und liberaler Medien und der Boulevardpresse, hat man manchmal den Eindruck, völlig verschiedene Ereignisse hätten stattgefunden. Parallelwelten tun sich vor einem auf – als könnten sich Journalisten und Politiker nicht mehr auf die Realität einigen. Wenn alles nur noch dem Interpretationsspielraum überlassen wird, dann regiert Irrationalität. Dann wird die Realität zu Fake. Dann ist alles Fake-News, und Fake-News ist alles. Und wer die beste Geschichte erzählt, gewinnt?

In den USA, wo Medien und Politik ruppiger und härter agieren, weil die Lebensrealität der Menschen seit jeher ruppiger und härter ist als bei uns, ist man bombastische Politinszenierungen schon länger gewöhnt. Nicht zufällig stammen Serien wie "House of Cards" oder Filme wie "Wag the Dog" aus der Feder amerikanischer Autoren.

In Letzterem wird gnadenlos beschrieben, wie die Berater eines Präsidenten sprichwörtlich über Leichen gehen, um die Wiederwahl ihres Kandidaten sicherzustellen. Um die außereheliche Affäre des Präsidenten zu kaschieren, wird kurzerhand ein Krieg erfunden. Inszeniert und wirkungsvoll ins Bild gesetzt von einem exzentrischen Hollywood-Regisseur, und das so glaubwürdig, dass sich das ganze Land in patriotischer Pflicht hinter seinem Staatsoberhaupt versammelt. Der Skandal ist abgewehrt, die Wiederwahl garantiert.

"Dirty Campaigning" gegen Kurz?

In letzter Zeit fühlt man sich bei der Lektüre über innenpolitische Empörungen manchmal an diesen Film und die darin thematisierte Inszenierung der Realität erinnert. Und es ist nie ein gutes Zeichen, wenn man beim Nachrichtenkonsum an Hollywood-Filme denken muss.

Seit einigen Wochen spuken etwa Meldungen durch die bürgerliche Presse, die von einem "dirty campaigning" gegen den ÖVP Außenminister Sebastian Kurz berichten. Ausgerechnet der Koalitionspartner SPÖ soll demnach in alten Schulalben des jungen Kurz wühlen, um Skandale ans Licht zu bringen und die erfolgreiche Nachwuchshoffnung der Volkspartei in den Schmutz zu ziehen. ÖVP-Politiker zeigten sich wütend ob dieser Vorgänge und taten diese Wut auch kund. Man dürfe sich nicht wundern, dass es junge Menschen nicht in die Politik ziehe und sie kein Engagement für ihr Land zeigen würden, wenn man sie dort derart behandeln würde, hieß es unter anderem.

Nur Kurz schwieg zu der angeblichen Kampagne gegen ihn. Bis heute ist sie bloß eines: Behauptung. Keine einzige kompromittierende Geschichte ist aufgetaucht, nicht mal ein Skikursfoto vom Außenminister, das ihn rauchend und eng umschlungen mit einer gepiercten, tätowierten Mitschülerin zeigen würde. Nichts. Angekündigte Skandale finden eben selten statt. Es bleibt der bittere Nachgeschmack, dass die behauptete Dirty Campaign inklusive der Empörung darüber die eigentliche Kampagne gewesen sein könnte.

Über Empörungsmedien empören

Kurz darauf entdeckt die ÖVP den nächsten Skandal. Man hätte Informationen über einen Haftbefehl gegen den international tätigen Politberater Tal Silberstein, der auch für Kanzler Kern tätig ist. Der Kanzler solle eine "Ehrenerklärung" abgeben, in der er sich von dem Berater distanziere. Basis der Vorwürfe war ausgerechnet eine Meldung auf dem FPÖ-nahen Portal "unzensuriert.at". Das Wochenmagazin "News" recherchierte und widerlegte die Behauptungen. Doch das schien die ÖVP nur wenig zu beeindrucken. Man empörte sich weiterhin, zumindest in jenen Medien, die dieser Empörung Platz einräumten.

Dirty Campaigning ohne Kampagne und dirty Berater ohne Beweise? Als innenpolitischer Beobachter muss man nicht erst die mittlerweile zu Tode strapazierten Begriffe "postfaktisch" oder "Fake-News" gebrauchen, um den Eindruck zu gewinnen, Geschichten präsentiert zu bekommen, die es von ihrer Substanz her bestenfalls in die Daily-Soap-Leiste von RTL II schaffen würden. Statt wenig glaubwürdige Plots zu konstruieren, könnten die Koalitionspartner ihre Kreativität zur Abwechslung für die Lösung drängender Probleme des Landes wie etwa die Arbeitslosigkeit nutzen, um den Wählern endlich eine Erfolgsstory präsentieren zu können.

Sonst kann es leicht passieren, dass bei Neuwahlen die Populisten Oberhand gewinnen. Denn deren Geschichten sind ganz einfach gestrickt, und ihr Ausgang kann – wie man es gerade in Großbritannien beobachten muss – tatsächlich dirty sein. Und zwar nicht nur für einzelne Parteien. Sondern für das ganze Land und die EU. (Barbara Kaufmann, 21.1.2017)