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Zuletzt kam es im Alcacuz-Gefängnis im Bundesstaat Rio Grande do Norte zu Revolten. Spezialeinheiten der Polizei versuchten die rivalisierenden Banden zu trennen.

Foto: AP Photo/Felipe Dana

Mitte 2016 wurde ein eher unscheinbar anmutender handgeschriebener Brief aus dem Hochsicherheitsgefängnis Presidente Venceslau im Bundesstaat São Paulo geschmuggelt. Schnell verbreitete sich das Schreiben tausendfach über Whatsapp – in- und außerhalb der Gefängnismauern. Der Inhalt ist nichts Geringeres als eine Kriegserklärung des mächtigsten kriminellen Kartells "Erstes Hauptstadtkommando" (PCC) an seinen größten Rivalen aus Rio de Janeiro, das "Comado Vermelho" (Rotes Kommando, CV). Seitdem erschüttern brutale Kämpfe die Haftanstalten, wo Mitglieder beider Gangs einsitzen. Seit Jahresbeginn wurden schon mehr als 130 Häftlinge ermordet.

Die Revierkämpfe würden nicht hinter den Gefängnismauern bleiben, befürchtet die Soziologin Camila Nunes Dias: "Dann wird die Gewalt explodieren." Von einem "absoluten Versagen des Staates" spricht César Muñoz von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. "Die Zustände in brasilianischen Gefängnissen sind wie im Mittelalter", sagt er.

Bruch zwischen den Banden

Das "Erste Hauptstadtkommando" wurde 1993 in São Paulo hinter Gefängnismauern gegründet, um die "inhaftierten Brüder" vor der Polizeigewalt zu schützen, wie es im Statut heißt. Das "Comando Vermelho" machte der Drogenhandel in den Armenvierteln Rios stark. Mehr als zehn Jahre waren PCC und CV Verbündete, ihre Territorien klar abgesteckt. Doch die Bandenchefs aus São Paulo wollten immer weiter expandieren, was wohl letztendlich zum Bruch führte.

Das PCC ist zu einer heute streng hierarchisch organisierten Mafiaorganisation mit geschätzt 22.000 Mitgliedern und besten Verbindungen in Lokalpolitik und Wirtschaft gewachsen. Ihm gehören Fußballteams, Immobilien und Busflotten im Nahverkehr von São Paulo. Jahrelang betrieb es eine illegale Raffinerie, in die laut brasilianischen Medien Erdöl des halbstaatlichen Konzerns Petrobras "umgeleitet" wurde.

"Schule des Verbrechens"

Die neuen Mitglieder werden in Haftanstalten rekrutiert. Dafür genießen sie dann den "Schutz" des Kartells hinter den Gefängnismauern. Wer den Mitgliedsbeitrag von umgerechnet etwa 200 Euro nicht zahlen kann, muss seine Schuld wieder in Freiheit "abarbeiten" und bleibt so in Abhängigkeit. "Die Macht in den Haftanstalten haben eindeutig die Kartelle", sagt Dias. Für Gefangene sei es kaum möglich, neutral zu bleiben. Damit seien Haftanstalten eine wahre "Schule des Verbrechens".

Obwohl die Bandenchefs seit Jahren hinter Gittern sitzen, gelingt es der Justiz nicht, sie zu kontrollieren. Mit Mobiltelefonen organisieren sie den Drogenhandel und genießen zahlreiche Privilegien, oftmals durch Schmieren des Wachpersonals.

In dem wirtschaftlich stärksten Bundesstaat São Paulo und in vielen Gefängnissen im Süden des Landes herrscht unangefochten das "Hauptstadtkommando". In den Amazonas-Staaten und im Nordosten kämpfen verschiedene Drogenbanden um die Macht. Seit etwa zehn Jahren drängt die kriminelle Organisation "Familia do Norte" (FDN) aus Manaus ins Drogengeschäft und kontrolliert inzwischen den gesamten Kokainhandel über die grüne Amazonas-Grenze aus Peru und Kolumbien.

Ein Massaker als "Unfall"

Die hemmungslose Überbelegung und die menschenunwürdigen Bedingungen in den Haftanstalten sind lange bekannt. Doch die brasilianische Politik schließt nicht nur die Augen, sie verharmlost die Krise auch noch. Nach dem Massaker in der Amazonas-Hauptstadt Manaus Anfang Jänner mit 56 Toten sprach Brasiliens Präsident Michel Temer von einem "Unfall", als wollte er damit das Geschehene vergessen machen. Der Gouverneur des Bundesstaates, José Melo, betonte, dass "kein einziger Heiliger" unter den Toten gewesen sei – es klang wie eine Rechtfertigung. Besonders pikant: Gegen den Politiker laufen Ermittlungen, weil er mit der "Familia do Norte" im Tausch gegen Stimmen einen Deal abgeschlossen haben soll.

In Brasilien herrscht eine Politik des Wegschließens: Rund 650.000 Menschen sitzen in Haft. Brasilien gehört damit zu den Ländern mit den meisten Gefangenen proportional zur Einwohnerzahl. Rund 36 Prozent der Inhaftierten sind Untersuchungshäftlinge, die noch nie angehört wurden. Denn auch die Gerichte sind überfordert. Im Schnellverfahren von oft wenigen Minuten werden Urteile gefällt. "Die meisten Gefangenen sind Kleinkriminelle, die geringe Mengen an Drogen im Auftrag der Bandenchefs verkaufen und von diesen leicht zu ersetzen sind. Wer aber in Freiheit bleibt, sind die Verantwortlichen, die Morde in Auftrag geben und Geld waschen", sagt Luciana Boiteux, Juristin an der Universität von Rio. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 24.1.2017)