Für ihre Rolle in Michael Hanekes Oscar-gekröntem Film "Amour" gewann Emmanuelle Riva unter anderem den Europäischen Filmpreis und den Cesar.

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Paris – Als sie vor vier Jahren für ihre große Altersrolle in Michael Hanekes Liebe den César erhielt, erschien sie zur Preisverleihung in einer munter strähnigen Punk-Frisur. Damit fischte die fast 86-jährige Emmanuelle Riva nicht nach Komplimenten über ihre alterslose Schönheit, sondern strahlte Unternehmungslust aus. Die Schauspielerin, die sich auf ahnungsvolle Nuancen verstand, gab ihr freilich eine melancholische Tönung. "Freund, versäume nicht zu leben", zitierte sie Kleist, "denn die Jahre fliehn. Und es wird der Saft der Reben uns nicht länger glühen."

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In den Händen von Jean-Louis Trintignant in Michael Hanekes "Liebe" (2012).
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Ihren Preis nahm sie stellvertretend für das gesamte Team von Hanekes Film entgegen. Den César konnte die grazile Dame kaum tragen: "Er wiegt mehr als ich!" Fragil wirkte die Schauspielerin, die 1959 mit Hiroshima mon amour berühmt wurde, freilich nie. Ihre Kunst ruhte darin, auf robuste Weise feinnervig und filigran zu sein. In Alain Resnais' frühem Meisterwerk verlieh sie der filmischen Moderne ein Gesicht und eine Stimme. In ihrer Darstellung verschmelzen Wehmut, Verzweiflung und Aufbruch.

Film Society of Lincoln Center

Zu Beginn der 60er-Jahre standen der 1927 geborenen Schauspielerin im französisch-italienischen Kino fast alle Türen offen. Den Anschluss zur Nouvelle Vague suchte sie indes genauso wenig wie den zum Mainstream. Sie drehte lieber mit Regisseuren, die ebenso unabhängig und schwer einzuordnen waren wie sie selbst. In Antonios Pietrangelis Ensemblefilm Adua und ihre Gefährtinnen verleiht sie ihrer Figur eine 1960 noch ungekannte Aura zärtlicher Frauenliebe. Für die Rolle der Ehefrau, die in Georges Franjus Die Tat der Thérèse D. der stickigen Enge des katholischen Bürgertums entkommen will, erhielt sie 1962 den Darstellerpreis in Venedig. Riva reizten weniger die romantischen als vielmehr die ethischen Konflikte ihrer Charaktere. Die fand sie vor allem in Filmen, die Zeitgeschichte aufarbeiteten, namentlich Krieg, Widerstand und Shoah: in Kapo (1960) von Gillo Pontecorvo und ein Jahr später in Eva und der Priester von Jean-Pierre Melville.

Im Starsystem Frankreichs hätte sie den intellektuellen Gegenpol zu Brigitte Bardot bilden können. Aber diesen Part überließ sie getrost Jeanne Moreau, die ihn ebenso überzeugend ausfüllte. Auf der Höhe ihres Ruhms schlug sie gar den Status eines Leinwandstars aus. Sie fürchtete, er würde ihren Spielraum zu sehr einschränken. Vor der Kamera trat sie fortan nur sporadisch auf. Das Theater genügte ihren hohen Ansprüchen eher. Dort glänzte sie im klassischen Repertoire, setzte sich aber auch für moderne Dramatiker wie Audiberti und Pinter ein. Dem Kino kam sie nie vollends abhanden. Mitunter flackerte ihre Neugierde auf das Medium wieder auf, etwa in Diese Augen, dieser Mund von Marco Bellocchio oder Drei Farben: Blau an der Seite von Juliette Binoche.

September 2012: Mit Michael Haneke bei der Premiere von "Liebe" im Wiener Gartenbaukino.
Foto: Schöndorfer

Aber erst Michael Haneke verstand es, ihre rückhaltlose Hingabe neuerlich zu mobilisieren: In Liebe stellte sie ihre so kraftvolle wie leichtfüßige Empfindsamkeit ein letztes Mal in den Dienst des Kinos. Am vergangenen Freitag ist Emmanuelle Riva im Alter von 89 Jahren in Paris gestorben. (Gerhard Midding, 28.1.2017)