Wien – Zumeist sitzen die stacheligen Kugeln in Massen an felsigen Küsten im seichten Wasser: Vom Urlaub am Meer sind Seeigel den meisten Menschen gut bekannt. Schon der griechische Philosoph Aristoteles beschrieb sie in seiner Historia animalium. Ihre Geschlechtsorgane werden in zahlreichen Ländern als Delikatesse geschätzt, für die Wissenschaft dienen sie wegen ihrer transparenten Eier als Modellorganismus in der Entwicklungsbiologie. Doch trotz ihrer Häufigkeit ist über ihre Evolution verhältnismäßig wenig bekannt.
Andreas Kroh tritt gewissermaßen in die Fußspuren Aristoteles'. Im Rahmen eines neuen, vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) geförderten Forschungsprojekts untersucht der Paläontologe des Naturhistorischen Museums Wien die Entstehungsgeschichte einer speziellen Ordnung der Seeigel, der Camarodonta. Die Gruppe existiert bereits seit der Unterkreide vor rund 130 Millionen Jahren. Als Vertreter der regulären Seeigel weisen sie eine fünfstrahlige radiale Symmetrie auf. Die Camarodonta verfügen über ein regelmäßiges Stachelkleid, sie stellen zwar nur wenige Prozent aller bekannten Seeigelarten, trotzdem gehören sie zu den häufigsten Vertretern ihrer Klasse.
Zentrale ökologische Rolle
Die Seeigel spielen eine zentrale Rolle für die Gesundheit ihres Ökosystems. Sie ernähren sich hauptsächlich herbivor. Auf ihrem Speisezettel stehen vor allem Algen. Für Korallen hat ein übermäßiges Algenwachstum katastrophale Folgen, die Seeigel weiden in Riffen die Algenmatten wie Schafe der Meere ab. Eine Überfischung der Seeigel führt folglich dazu, dass das System kippen kann.
Gefangen werden die Seeigel wegen ihrer leuchtend orangen Gonaden, die in Japan "Uni" genannt werden und je nach Qualität um mehrere Hundert Euro pro Kilo gehandelt werden. Während bei anderen Wildtieren in den Fortpflanzungsphasen Schonzeiten eingehalten werden, um die Bestände nicht zu gefährden, werden die Seeigel ausgerechnet dann gegessen, wenn die Geschlechtszellen reif sind und bevor sie ins Wasser abgegeben werden können.
Stammbaum der Seeigel
Für die kommerzielle Nutzung werden die Stachelhäuter daher auch industriell gezüchtet. Geschädigte Lebensräume lassen sich mit nachgezüchteten Tieren allerdings nicht so einfach wiederherstellen.
Kroh untersucht den Stammbaum der Camarodonta nun unter Berücksichtigung der rezenten wie ausgestorbenen Vertreter der Gruppe. Bei den fossilen Arten werden für morphologische Vergleiche große Stückzahlen benötigt, um belastbare Ergebnisse zu erhalten. Die Genome der rund 70 lebenden Arten werden mit modernen Analysemethoden, dem "Next Generation Sequencing", untersucht. Dabei werden bestimmte Bereiche des Genoms angereichert, um die Menge der vergleichbaren Sequenzen zu erhöhen und damit die Qualität der daraus berechneten Stammbäume zu verbessern.
Aristoteles' Laterne
Das neue Projekt startete Kroh just im "Jahr des Aristoteles". Dieses hat die Unesco für 2016 anlässlich des 2400. Geburtstags des Philosophen ausgerufen. Aristoteles gilt nicht nur als Begründer der Naturwissenschaften, er hat auch wesentliche Grundlagen für die Erforschung der Meereslebewesen geschaffen, die er systematisch beschrieb. So rühren heute noch zahlreiche Namen von marinen Arten und Gattungen von dem Platon-Schüler her. Auch ein Organ der Seeigel ist nach ihm benannt: Als "Laterne des Aristoteles" wird in der Biologie der fünfzahnige Kauapparat der Stachelhäuter bezeichnet. Dies basiert allerdings auf einem Irrtum.
In Wirklichkeit hat Aristoteles wohl die ganze Schale der regulären Seeigel mit einer Laterne verglichen, wie eine Studie nahelegt, für die archäologische Funde und andere zeitgenössische Quellen herangezogen wurden. Die feinen Poren der Schale erinnern an eine Lampe aus perforiertem Bronzeblech, wie sie beispielsweise im Grab des Makedonenkönigs Philipp II. gefunden wurde.
Auch Kroh arbeitet wie schon Aristoteles an einer systematischen Erfassung seiner Forschungsobjekte, die Resultate des Camarodonta-Projekts werden in die "Worms"-Datenbank eingespeist. Beim "World Register of Marine Species" ist Kroh für die Seeigel zuständig. Das Ziel ist die Erstellung eines Inventars aller Meereslebewesen. An der öffentlich zugänglichen Datenbank sind weltweit 250 Forscher beteiligt, beheimatet ist das von der EU geförderte Projekt am flämischen Marineinstitut in Ostende. (Michael Vosatka, 1.2.2017)