Ulrike Lunacek plant schon den EU-Wahlkampf 2019. Sie will sich um das Amt der Kommissionspräsidentin bewerben.

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Die grüne EU-Abgeordnete Ulrike Lunacek strebt an, bei der Europawahl 2019 als Spitzenkandidatin der europäischen Grünen anzutreten und als solche um das Amt des künftigen EU-Kommissionspräsidenten zu kämpfen. Mit dieser Ansage lässt die gebürtige Niederösterreicherin, die 2009 ins EU-Parlament einzog und damals Johannes Voggenhuber verdrängte, im STANDARD-Interview aufhorchen. Lunacek ist Mitte Jänner mit einer breiten Mehrheit von 414 Stimmen erneut für zweieinhalb Jahre zur Vizepräsidentin des Parlaments gewählt worden, was in Straßburg eine seltene Ehre ist. In der Regel werden die Spitzenfunktionen zur Halbzeit der Legislaturperiode neu verteilt.

"Das ist durchaus etwas, was mich reizen würde", sagt Lunacek auf die Frage nach der Spitzenkandidatur, ebenso die (theoretische) Aussicht, als erste Frau an die Spitze der Kommission zu gelangen, sollten künftige Koalitionen das erlauben. Ihr Lieblingsamt wäre jedoch das der Parlamentspräsidentin.

Bei ihrer Kritik am Zustand der Union würden die Grünen keinesfalls in die Anti-EU-Polemik der Rechtspopulisten einfallen, sagt Lunacek. Im Gegensatz zu diesen hätten die Grünen "konkrete Lösungen für Probleme anzubieten". Allerdings sieht sie die Gefahr, dass das Zerbröseln der Union nach dem Brexit weitergehen könnte. Größte Aufgabe sei deshalb, über die Parteien hinweg die Einheit zu stärken. Gegenüber den USA müssten die Europäer trotz Präsident Donald Trump eine konstruktive Rolle spielen und die Beziehungen aufrechtzuerhalten versuchen. Lunacek kündigt an, dass die Grünen im Februar gegen das Ceta-Handelsabkommen mit Kanada stimmen werden. Trump habe an der grünen Kritik daran nichts geändert.

STANDARD: Als Sie 2009 ins EU-Parlament kamen, fielen Sie dadurch auf, dass Sie in Brüssel und Straßburg mit öffentlichen Leihrädern zur Arbeit fuhren statt mit dem Limousinenservice, der Abgeordneten zusteht. Tun Sie das nach wie vor?

Ulrike Lunacek: Ja. Auch jetzt, wenn es so kalt ist. Ich brauche Frischluft, fahre seit 1975 ständig mit dem Fahrrad, im Sommer und im Winter. Ich benutze aber auch den Fahrtendienst des Parlaments, etwa auf dem Weg zum Flughafen, oder fahre mit dem Zug, so gut es geht.

STANDARD: Die Frage bezieht sich darauf, dass Sie gerade zum zweiten Mal zur Vizepräsidentin gewählt worden sind, was nicht oft geschieht. Das ist mit Repräsentieren verbunden, Sie sind protokollarisch hochrangig. Verändert die sprichwörtliche Würde des hohen Amtes den Zugang einer Oppositionspolitikerin?

Lunacek: Ich bin formell die höchste österreichische Politikerin in der EU. Es ist schon so, dass ich wegen dieser protokollarisch hohen Position immer wieder ganz vorne begrüßt werde. Das alles ist für mich nicht wichtig. Mit dem Fahrrad fahre ich zum Luftholen.

STANDARD: Bemerkt man einen Unterschied beim Politikmachen? Durch die Amtsführung von Ex-Präsident Martin Schulz hat sich das Bild der EU-Präsidenten verändert.

Lunacek: Ich merke, dass ich öfter angefragt werde für Termine in Österreich. Ich bin nicht nur die Delegationsleiterin der Grünen im EU-Parlament, sondern auch im Präsidium des Parlaments. Dadurch tun sich viele leichter, mich anzufragen. Es hilft dabei, mehr gehört zu werden, mehr Präsenz zu haben, auch in den Medien.

STANDARD: Kriegen Sie auch mehr Geld als ein einfacher EU-Abgeordneter?

Lunacek: Da gibt es viele falsche Vorstellungen, etwa dass ich ein Dienstauto hätte oder mehr bezahlt bekomme, was nicht stimmt. Ich habe eine Person mehr, die für mich arbeitet, und ein größeres Büro, in dem ich kleine Gruppen empfangen kann, das stimmt. Ich merke aber auch, dass Leute sagen: "Schön, dass eine Österreicherin diese Anerkennung hat." Das hat mehr Interesse für das bewirkt, was wir in der EU tun, mehr Anfragen und Termine als zuvor.

STANDARD: Viele Leute fragen sich aber, wozu ein EU-Parlament 14 Vizepräsidenten braucht. Was tun die alle?

Lunacek: Das hat mit der Entstehungsgeschichte zu tun. Man hat darauf geachtet, dass möglichst alle Mitgliedsländer bedacht werden, auch aus den verschiedensten Parteien. Aber wir haben viele unterschiedliche Tätigkeiten, die Union hat 500 Millionen Einwohner. Österreich hat acht Millionen Einwohner und drei Nationalratspräsidenten. 14 für 500 Millionen, das geht sich schon aus, man versucht, möglichst alle Fraktionen reinzuholen. Der Tätigkeitsbereich ist sehr breit geworden.

STANDARD: Was genau machen Sie als Vizepräsidentin neben der normalen Abgeordnetentätigkeit?

Lunacek: Ich möchte die Aufgaben, die ich bisher hatte, behalten. Der neue Präsident Antonio Tajani hat dafür schon Verständnis gezeigt. Ich habe vier Hauptbereiche. Ich bin in meiner Eigenschaft als Außenpolitikerin für den Westbalkan zuständig, bin auch im entsprechenden Außenausschuss. Deshalb habe ich etwa den Präsidenten im Juli 2015 bei der Gedenkfeier in Srebrenica vertreten. Dann bin ich für das Netzwerk der Sacharow-Preisträgerinnen und -träger zuständig, gemeinsam mit der Menschenrechtsabteilung des Parlaments natürlich. Wir versuchen Leute zu betreuen, die noch im Gefängnis sitzen oder sonst Schwierigkeiten haben, wie ein syrischer Karikaturist, der derzeit in Kuwait lebt.

STANDARD: Sind Sie da sozusagen die Anspielstation für verfolgte Oppositionelle aus aller Welt, die Kontakt zum EU-Parlament suchen?

Lunacek: Genau.

STANDARD: Das klingt sehr vielfältig, hat mit Gesetzgebung im engeren Sinn aber wenig zu tun.

Lunacek: Es gibt noch zwei Dinge, die mir wichtig sind. Das eine ist Emas, ein Kürzel für das ökologische Management der Gebäude des Parlaments. Wir setzen uns Ziele zur Reduzierung von Wasserverbrauch, Energieverbrauch, aber auch von Papier und Plastik. Da haben wir schon viel erreicht, etwa Wasserspender auf den Gängen, um den Verbrauch von Plastikflaschen massiv zu reduzieren. Und schließlich bin ich mit einem Kollegen gemeinsam auch noch zuständig für die Finanzierung europäischer Parteien und Stiftungen. Wir kontrollieren, dass die EU-Gelder nicht missbräuchlich verwendet werden, wie zuletzt im Fall von Marine Le Pen, die mehr als 340.000 Euro für Parteizwecke in Frankreich missbrauchte und jetzt zurückzahlen muss. Das alles sind Bereiche, für die Vizepräsidenten zuständig sind.

STANDARD: Ist dieser Job vergleichbar mit Senatoren in den USA, wenn sie durch die Welt fahren?

Lunacek: Es ist so, dass ich natürlich eine Grüne bleibe, aber ich vertrete schon das gesamte Parlament. Da ist es wichtig, dass man sich an die Grundsätze hält, nicht nur grüne Politik vertritt. Ich werde wahrgenommen als Vertreterin der Union.

STANDARD: Das führt jetzt direkt zu Ex-Präsident Martin Schulz, dem jetzigen SPD-Kanzlerkandidaten in Deutschland, der das Amt neu definiert hat. Das hat ihm Lob eingebracht, weil er dem EU-Parlament mehr Aufmerksamkeit und Bedeutung verschaffte. Aber die Fraktionen, die verschiedenen politischen Parteien wurden etwas überdeckt, die politische Willensbildung. Ist das nicht ein zu hoher Preis?

Lunacek: Ich habe Schulz, so wie er das Parlament nach außen vertreten hat, sehr geschätzt, etwa gegenüber dem Rat der Regierungschefs. Auch wenn man nicht in allem übereingestimmt hat, hat er doch das Parlament sichtbar gemacht. Nach innen hat er die große Koalition vertreten mit den Christdemokraten – wenn ich etwa an den Luxleaks-Ausschuss denke.

STANDARD: Sie meinen die Untersuchungen gegen die Steuervermeidungspraktiken von Konzernen in Luxemburg.

Lunacek: Wir wollten einen tatkräftigen Ausschuss, der auch Material von den Regierungen verlangen kann. Da hat Schulz abgeschwächt, sich in einer Weise verhalten, die nicht in Ordnung war.

STANDARD: Ist das nicht ein Zeichen von Unreife, ein Problem des Parlamentarismus auf EU-Ebene, wenn viele EU-Bürger zwar den Präsidenten kennen, aber kaum jemand die Fraktionschefs?

Lunacek: Das hat mit der Geschichte des Parlaments zu tun. Es hat lange nicht diese gewichtige Rolle als Parlament gespielt, die es seit dem Lissabon-Vertrag hat. Das muss in den Köpfen der Menschen erst verankert werden. Das ist ein Problem, die Struktur der EU ist sehr schwer zu kommunizieren, warum die Gesetzgebung zum Beispiel so lange dauert. Dazu kommt auch die Sprachenvielfalt.

STANDARD: Leute wie Ihr früherer Fraktionschef Daniel Cohn-Bendit konnten das, der war ein großer Europäer, und jeder wusste zugleich, dass er ein Grüner ist.

Lunacek: Solche Persönlichkeiten, die auch in mehreren EU-Ländern zu Hause sind, gibt es leider zu selten. Ich finde auch, dass die Fraktionschefs rhetorisch gut sein müssten, das ist derzeit nicht bei allen der Fall.

STANDARD: Man hat in letzter Zeit ein wenig den Eindruck, dass das EU-Parlament politisch in sich gefangen ist. Es geht weniger darum, dass die Parteifamilien ihre ideologischen und sachlichen Differenzen in politischen Fragen austragen, sondern um die Auseinandersetzung zwischen denen, die für die EU sind, und den anderen, die die EU zerstören oder verlassen wollen. Die Grünen kommen da etwas unter die Räder, sind nur mehr sechststärkste Fraktion in Straßburg. Sehen Sie dieses Problem? Ihr Vorgänger Johannes Voggenhuber war diesbezüglich ein scharfes Messer, der hat hart in alle Richtungen kritisiert.

Lunacek: Ich habe sicher einen ganz anderen Stil. Aber ich kann schon auch hart sein, inhaltlich zumindest. Was nun die Debatte um den Präsidenten betrifft, wir wussten bis zuletzt nicht, wer es wird. Die große Koalition war vorbei, das ist gut, also ging es darum zu verhandeln, wer nach Schulz eine Mehrheit bekommt. So etwas gibt es zum Beispiel in Österreich gar nicht. Da ist immer klar, dass die Partei des Wahlsiegers den Präsidenten stellt. Im EU-Parlament mag es komplizierter sein, aber ich finde, es ist insgesamt demokratischer.

STANDARD: Weil alle Fraktionen mit Posten bedacht werden?

Lunacek: Nein, wir haben versucht, dass es eine Frau wird, aber die Christdemokraten haben dann Tajani aufgestellt, die Sozialdemokraten ihren Fraktionschef Pittella. Aber es ist doch so, dass man hier in Straßburg freiere Kräfte walten lässt. Was uns bisher nicht gelungen ist, ist, so etwas wie ein europäisches Heimatgefühl zu entwickeln in dem Sinn, dass wir gemeinsam Europa sind, die EU etwas Selbstverständliches ist und man auf dieser Basis parteipolitische Auseinandersetzungen führt. Aber es gibt eben auch Mitgliedsstaaten, die austreten wollen, wie Großbritannien. Das ist uns nicht gelungen, zumindest nicht in dem Ausmaß, wie es notwendig wäre. Wir Grünen müssen uns oft damit herumschlagen, dass manche uns vorwerfen, wir seien gegen die EU, wenn wir Kritik üben. Da muss man vorher immer erklären, dass man nur die Dinge ändern will. Ich bin ja auch nicht gegen Österreich, wenn ich die Verhältnisse in Österreich ändern will.

STANDARD: Das ist aber eben ein Führungsproblem, wenn einer Partei das nicht gelingt, wenn deren Chefs das nicht hinkriegen, nicht? Die Grünen haben an Einfluss verloren, sind auch kaum wo in einer Regierung vertreten. Ist das nicht das Problem? Es gibt keinen Joschka Fischer unserer Zeit.

Lunacek: Wir sind in Deutschland stark, prozentmäßig auch in Österreich. Aber es stimmt, wir haben etwa in Frankreich bei den letzten EU-Wahlen stark verloren, da hat der Abgang von Cohn-Bendit sehr geschadet. Wir haben jetzt 51 Mandate, sind aber in der Arbeit im EU-Parlament durchaus präsenter, als diese Zahl vermuten ließe. Aber sicher, ich wünsche mir, dass wir 2019 noch deutlich mehr Abgeordnete bekommen, vor allem aus Süd- und Osteuropa.

STANDARD: Werden Sie bei der Wahl 2019 wieder kandidieren, ist das fix?

Lunacek: Wenn mich wer fragt, sage ich Ja. Für die österreichischen Grünen ist zunächst einmal der Nationalratswahlkampf angesagt. Aber ich habe den Eindruck, dass es innerhalb der Partei sehr klar ist, dass ich noch einmal antrete.

STANDARD: Für den Nationalrat werden Sie nicht kandidieren.

Lunacek: Nein!

STANDARD: Die EU-Wahl im Frühjahr 2019 ist nicht mehr so weit, wie sollen die Grünen da reingehen?

Lunacek: Wir sind schon am Vorbereiten. Ein Ziel ist vor allem, dass wir in Ländern, in denen es Chancen für Grüne gibt, ins Europaparlament einzuziehen, Mandate gewinnen. Parteien und Gruppen, die uns nahestehen, werden wir unterstützen, auch ich als Vizepräsidentin. Inhaltlich müssen wir vor allem Umwelt und Soziales in den Vordergrund stellen, das heißt Energieautonomie, Ausstieg aus fossilen Brennstoffen vorantreiben und so Menschenrechte stärker als Teil der Außenpolitik definieren: Wir könnten gegenüber Russland oder Saudiarabien oder Aserbaidschan viel entschlossener vorgehen! Außerdem ist mir die Grundrechtsfrage innerhalb der EU ein besonderes Anliegen.

STANDARD: Werden Sie sich als Spitzenkandidatin für Europas Grüne bewerben?

Lunacek: Das ist durchaus etwas, was mich reizen würde, diese Spitzenkandidatur.

STANDARD: Das ist mit einer Bewerbung um das Amt des Kommissionspräsidenten verbunden, so wie bei Jean-Claude Juncker, Martin Schulz oder der deutschen Grünen und jetzigen Fraktionschefin Ska Keller bei der Europawahl 2014.

Lunacek: Meine erste Priorität wäre Präsidentin des Europaparlaments.

STANDARD: Wollen Sie als europäische grüne Spitzenkandidatin die erste Kommissionspräsidentin in der Geschichte werden?

Lunacek: Das ist durchaus etwas, was mich reizen würde. Aber Europaparlamentspräsidentin wäre auch nicht schlecht.

STANDARD: Zurück zu den Grünen auf europäischer Ebene. Welche Themen müssten diese anziehen, um beim Wähler stärker zu punkten. Kritik an Konzernen und Kapitalismus, wie das plakatiert wird, reicht nicht, weil Steuern nationale Kompetenz sind.

Lunacek: Was die Freihandelsabkommen TTIP und Ceta betrifft, üben wir diese Kritik, ja. Es wird eine Abstimmung über Ceta geben im Februar, bei der wir dagegen stimmen werden. Was uns manchmal Schwierigkeiten in der Kommunikation macht, ist, dass wir aus Protesttraditionen kommen und Dinge radikal ändern wollen, gleichzeitig arbeiten wir heute wesentlich konstruktiver. Wir präsentieren auch Lösungen. Das ist – vom Stil her – der entscheidende große Unterschied zu den Rechtspopulisten wie Marine Le Pen oder Nigel Farage. Ohne uns hätte es zum Beispiel die Begrenzung der Bankerboni im Wirtschaftsausschuss nicht gegeben, in guter Zusammenarbeit mit Kollegen aus anderen Fraktionen, etwa Othmar Karas von der ÖVP. Da gelingt uns auch in Steuerfragen etwas, wie beim Panama-Ausschuss zur Steuervermeidungspraxis. Die Wettbewerbskommissarin Vestager schafft es gerade via Wettbewerbsrecht, dass Großkonzerne ihre Steuern zahlen. Das sind auch unsere Erfolge, Fortschritte in konkreten Themen.

STANDARD: Teilen Sie den Eindruck, dass die Rechtspopulisten und Nationalisten den Grünen den Rang als Opposition abgelaufen haben auf europäischer Ebene?

Lunacek: Wir machen bei dieser Anti-Europa-Haltung nicht mit, sicher nicht. Mag sein, dass dadurch in der medialen Berichterstattung weniger Raum für uns da ist, wenn wir mit unserer konstruktiven Arbeit Dinge voranbringen, zum Beispiel bei der Reduktion von Plastik, aber das ist erfolgreiche grüne Politik. Oder: Mit einem ambitionierten Kreislaufwirtschaftspaket können rund 600 Milliarden Euro durch den effizienteren Einsatz von Ressourcen eingespart werden. Abfalltrennung, da hat man in Österreich schon viel erreicht, aber in Europa noch gar nicht.

STANDARD: Hat die Finanz-, Wachstums- und Sozialkrise in Europa dazu geführt, dass klassische grüne Themen ins Hintertreffen geraten sind, etwa der Klimaschutz?

Lunacek: Das stimmt zum Teil sicher. Uns Grünen wird vor allem Kompetenz in Umwelt- und Energiefragen zugeschrieben. Auf diesem Gebiet hat sich vieles verbessert, das ist nicht mehr unser Alleinstellungsmerkmal. Alle sind jetzt ein bisschen grün geworden. Aber eines ist doch klar, ohne den Druck, der da von uns kommt, wäre in Österreich und Europa gar nichts weitergegangen. Darauf können wir schon stolz sein, auch wenn es immer noch zu wenige Maßnahmen gibt. Auf europäischer Ebene sind wir diejenigen, die kritisieren, dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beim großen Investitionsplan noch immer die Förderung von Atomenergie drinhat.

STANDARD: Zu Ceta und TTIP, den Freihandelsabkommen. Die Grünen haben jahrelang dagegen gekämpft, jetzt kommt der neue US-Präsident Donald Trump, der ganz auf Nationalismus setzt und auf Protektionismus, der die Grünen quasi überholt in der Zertrümmerung des Freihandels. Irritiert Sie das?

Lunacek: Die Gründe, warum wir dagegen sind, haben mit Nationalismus nichts zu tun. Wir wären ja für Handelsabkommen, aber mit den Prinzipien des fairen Handels. Dass Arbeitsplätze geschaffen werden, aber ökologisch und sozial in einer Weise, die nachhaltig ist. Bei TTIP und Ceta ist das nicht der Fall.

STANDARD: Bei Ceta, das fertig ist, lässt sich aber zeigen, dass genau das zum ersten Mal überhaupt berücksichtigt wird. Deshalb haben die Europäer ja mit Kanada begonnen, einem uns sehr ähnlichen Staatssystem.

Lunacek: Aber viel zu wenig. Es ist nicht gut genug, dass wir dafür sein können. Nur weil Trump aufgetaucht ist, werden wir nicht plötzlich sagen, wir sind für TTIP. Da würden wir unser Fähnchen in den Wind halten. Das geht nicht.

STANDARD: Das Problem für die Grünen ist, zu Ende gedacht, aber, dass nun durch das Ausbrechen der USA und auch den Brexit eine noch härtere, ungeregelte Wirtschaftspolitik und Konkurrenz droht, bei der die europäische Umwelt- und Sozialpolitik unter Druck kommt. Haben Sie da einen Zug verpasst unter acht Jahren US-Präsident Obama?

Lunacek: Wir reden jetzt einmal von Ceta, da werden wir in der Plenarsitzung übernächste Woche dagegen stimmen. Wenn das nicht kommt, wird das Trump nicht befeuern, er macht seine Politik mit und ohne Ceta. Was er macht, ist völlig erratisch, ein Chaos. Viele im US-Außenministerium wissen gerade selber nicht, wie das weitergeht.

STANDARD: Wie sehen Sie, wie das weitergeht mit Europa im globalen Umwelt?

Lunacek: Da ist Europa geschwächt, auch wegen des Brexit, des Austritts Großbritanniens aus der EU. Das Hauptproblem ist, dass die europäische Außenpolitik noch immer Sache der Mitgliedsstaaten ist. Da hat auch das Europaparlament wenig mitzureden, das wollen die Regierungen der Staaten nicht. In der Außen- und Sicherheitspolitik schwächt sich die EU selber. Es bräuchte mehr Gemeinsamkeit, andere Strukturen bei den Entscheidungen, wie die Abschaffung der Einstimmigkeit bei Entscheidungen, überhaupt die Abschaffung des Rats und Überführung in eine zweite parlamentarische Kammer, eine europäische Republik also. Da ist derzeit noch weniger Bereitschaft als bisher.

STANDARD: Abgesehen von der Person Trump: Kann es nicht sein, dass wir Europäer uns damit abfinden müssen, dass die USA nicht mehr bereit sind, so viel Geld und Energie für Europa aufzubringen wie in den Jahrzehnten nach dem Krieg? Das hat bereits Obama gesagt, nur viel höflicher als Trump.

Lunacek: Die klar vermuteten Sicherheiten sind ins Wanken geraten, das stimmt. Das sehe ich auch nicht parteipolitisch, sondern für Europa als Ganzes. Wir müssen das, was wir an Demokratie, an Sicherheit erreicht haben, nun stärken. Das wird sicher noch schwieriger, wenn die Briten einmal draußen sind. Wenn man sich die Weltkarte ansieht, ist dieses Europa eh schon sehr klein, aber doch noch einer der wichtigsten Akteure.

STANDARD: Wie geht es weiter mit Europa in der Welt, mit den USA?

Lunacek: Das weiß niemand. Es ist auf jeden Fall notwendig, den Kontakt mit den USA zu erhalten. Man muss Trump klar zu verstehen gehen, dass es nicht an ihm liegt, ob weitere Länder aus der EU austreten oder nicht. Dass wir aber bei aller Kritik, die wir an ihm und seiner Amtsführung haben, weiter an guten Beziehungen interessiert sind. Wir müssen Klartext reden, aber zu sagen, wir reden nicht mit ihm, das wäre kindisch. Es ist aber brandgefährlich, was der US-Präsident gerade macht. Wir müssen daher vor allem innerhalb der EU dafür sorgen, dass Demokratie und Grundrechte gestärkt werden. Die Kommission muss das vom Parlament beschlossenen Pakt für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte ins Leben rufen, damit wir vom Fingerzeigen auf einzelne Länder wie Ungarn oder Polen wegkommen und so die jeweiligen Regierungen zum Umlenken bewegen.

STANDARD: Halten Sie es für möglich, dass der Zerfallsprozess der EU nach dem Brexit weitergeht?

Lunacek: Möglich ist es, wenn Le Pen gewinnen sollte. In Frankreich ist im Moment einiges unklar. Aber derzeit ist es unwahrscheinlich, dass Le Pen mehr als 30 Prozent bekommt, ebenso dass ihr Fraktionskollege, der Rechtspopulist Geert Wilders, in den Niederlanden in die Regierung kommt. Aber wir müssen viel mehr tun, um gegen die Rechtspopulisten vorzugehen, insbesondere wenn sie mit europäischen Geldern betrügen wie Le Pen. (Thomas Mayer, 2.2.2017)