B wie Bildung: Kinder in der Volksschule sollen nicht bloß zu funktionierenden Konsumenten erzogen werden, sondern zu mündigen Bürgern, die ihren Kopf auch zum Nachdenken gebrauchen wollen.

Foto: Christian Fischer

Auf der STANDARD-Titelseite vom 3. Februar 2017 wiederholt Wifo-Chef Christoph Badelt, was von Politikerinnen und Politikern, Arbeitsmarktexpertinnen und Arbeitsmarktexperten und vielen anderen regelmäßig kolportiert wird: Eine zentrale Antwort auf steigende und dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit sei "Bildung, Bildung und noch einmal Bildung". Beinahe reflexartig stieg in mir die Wut über solche Aussagen hoch, weil sie nachweislich unrichtig sind und falsche Versprechungen machen. Diesmal setzte allerdings unmittelbar danach eine freudige Entspannung ein. Ich kann Christoph Badelt und all den anderen uneingeschränkt zustimmen. Wir brauchen mehr Bildung als Antwort auf Arbeitslosigkeit! Allerdings ganz andere Bildung als jene, von der hier die Rede ist.

Bildung und Zweck

"Bildung" ist derzeit beinahe ausschließlich darauf verkürzt, auf den Verdrängungswettbewerb am Erwerbsarbeitsmarkt vorzubereiten oder dafür neuerlich "fit" zu machen. Bereits Elementarbildung und Schule werden von Anfang an in die Pflicht genommen, "Startvorteile" zu verschaffen und die Basis für die spätere Vermarktung in der Erwerbsarbeit zu legen. Und sogenannte Allgemeinbildung wird zu "Basisqualifikationen" und "Schlüsselkompetenzen" umfunktioniert. Weiterbildung soll Fehlendes nachreichen, Falsches – weil gerade nicht Nützliches – ersetzen und Menschen arbeitsmarktkonform formen. Das ist die "Bildung", von der Badelt und andere sprechen.

Nehmen wir die Appelle doch beim Wort: Wir brauchen mehr Bildung! Beispielsweise brauchen wir Bildung, die zu Urteilskraft befähigt. Und zwar nicht in dem Sinne, dass der eigene Arbeitsmarktwert richtig beurteilt wird, gefolgt von einer eventuellen Kaskade an Anpassungsbemühungen. Sondern in einem kritischen Sinn: dass wir uns befähigen, die Hintergründe der Bedingungen und an uns gestellten Anforderungen zu verstehen und – wenn angebracht – ein negatives Urteil darüber zu fällen.

Analytische Fähigkeiten

Dazu brauchen wir Wissen über Gesellschaftsmechanismen und Zusammenhänge und Zugang zu alternativen Erklärungsansätzen. Wir brauchen analytische Fähigkeiten, um hinter die Fassaden der Appelle blicken zu können. Wir brauchen eine feinsinnige Wahrnehmung für herrschende Unmenschlichkeit und verursachtes Leid. Und nicht zuletzt brauchen wir Bilder von der Möglichkeit eines achtsamen Verhältnisses zu uns selbst und den anderen.

Damit ausgestattet könnten wir uns ein Urteil bilden. Wir könnten erkennen, dass, selbst wenn alle anforderungsgerecht qualifiziert wären, dennoch nicht ausreichend Arbeitsplätze vorhanden sind. Die Konsequenz wären lediglich bestens qualifizierte Arbeitslose. Wir könnten durchschauen, dass der Bildungsappell demnach eine andere Aufgabe erfüllen muss, beispielsweise zu vernebeln, inwiefern Arbeitslosigkeit strukturell bedingt und sogar erwünscht ist, um den Druck auf die Arbeitskräfte aufrechtzuerhalten.

Wir könnten wahrnehmen, dass uns ein Interesse am einzelnen Menschen lediglich vorgegaukelt wird, wir vielmehr nur verwertbares Humankapital sein sollen. Wir könnten entlarven, dass Erfolgsaussichten nur falsche Versprechungen sind, die uns als Karotte vor die Nase gehalten werden, jede Konkurrenz – auch die um Arbeitsplätze – aber immer Verliererinnen und Verlierer hervorbringen muss. Und wir könnten die aufgebürdete Schuld, für etwaiges Versagen selbst verantwortlich zu sein, von uns weisen und damit Auswege aus Enttäuschungen, Selbstverachtung und anderen emotionalen Belastungen eröffnen.

Wifo-Chef Badelt spricht im oben genannten Beitrag auch davon, dass die Gesellschaft verstärkt Maßnahmen entwickeln müsse, "wie man mit Arbeitslosigkeit umgeht". Ich nehme auch diese Aussage beim Wort, eröffnet sie doch, im Detail betrachtet, ganz neue Wege. Daran lässt sich Bildung von Alternativen und damit Alternativen-Bildung entwickeln. Die Aussage könnte auch so gelesen werden, dass sich Gesellschaft verändern muss und dass nicht Arbeitslosigkeit bekämpft wird, sondern ein grundlegend anderer Umgang damit gesucht wird.

Neue Einsichten

Dafür benötigen wir Bildung, die Grenzen überwinden will und damit in dem Sinn radikal ist, als sie Grundlagen infrage stellt. Bei solcher Bildung geht es nicht darum, mit den Widrigkeiten der Gesellschaft umgehen zu lernen, hier ein wenig was zu verändern, dort sich ein wenig anzupassen. Solche Bildung eröffnet vielmehr die Suche nach völlig neuen Alternativen. Dazu brauchen wir das Wissen und die Einsicht, dass Gesellschaft durch Menschen gemacht, von bestimmten Interessen gesteuert, aber eben auch durch Menschen veränderbar ist. Wir brauchen Kenntnisse über andere, eventuell bessere Gesellschaftsformen. Wir brauchen Fähigkeiten, so weit als möglich über Bisheriges hinauszudenken. Wir brauchen ein Gespür für bislang unbeachtete Bedürfnisse bei uns selbst und bei anderen.

Vorhandenes überschreiten

Mit solcher Bildung könnten wir beginnen, Vorhandenes zu überschreiten. Wir könnten erkennen, dass gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung nicht scheinbar naturgesetzlich "einfach passieren" und wir uns angeblich machtlos anpassen müssen, uns dies vielmehr nur glauben gemacht wird. Wir könnten Gesellschaft verändern wollen. Wir könnten einen gänzlich anderen Umgang mit Arbeitslosigkeit anstreben. Sei es, indem wir Menschen nicht mehr an ihrer Erwerbstätigkeit und -fähigkeit messen und damit Arbeitslosigkeit nicht mehr zu einer Identitäts- und Sinnkrise werden lassen. Oder sei es, indem wir die vorhandene Erwerbsarbeit radikal auf alle umverteilen.

Menschenachtung

Wir brauchen also mehr Bildung gegen Arbeitslosigkeit! Aber nicht solche, wie Christoph Badelt und andere meinen. Sondern wir brauchen kritische Bildung, urteilbefähigende Bildung, überschreitende Bildung, menschenachtende Bildung, widerständige Bildung. (Daniela Holzer, 8.2.2017)