"Als ich in den 1970er-Jahren mit meinen Eltern von Deutschland nach Teheran zurückkehrte, fiel mir auf, dass die Erwachsenen ihre Sätze bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit mit den Worten beendeten: '... kein Wunder also, dass der Iran zurückgeblieben ist.' Ich war sechs.

Eines Abends brachte mich die Großmutter, bei der ich gelegentlich die Nachmittage verbrachte, zurück zu meinen Eltern nach Hause. Wir waren zu Fuß unterwegs, es war spät, man sah die Sterne am Himmel. Großmutter begann mir die Sternbilder zu erklären, es war nicht das erste Mal, und ich fragte, woher sie das alles denn wisse. 'Im Sommer', sagte Großmutter, 'schlafen wir Teheraner nachts auf den Dächern.' Schlafen? Auf den Dächern?

Dass es sich bei den Dächern in Teheran, im Unterschied zu den Dächern in Düsseldorf, wo ich herkam, um Flachdächer handelte, wusste ich nicht, und ich versuchte mir, die Großmutter schlafend auf einem Düsseldorfer Schrägdach vorzustellen. 'Kein Wunder also', hörte ich mich sagen, 'dass der Iran zurückgeblieben ist.' Ich war ein altkluges Kind."

Gegen gefälschte Wahlen

Diese Zeilen schrieb ich im Sommer 2009, als die Menschen in Teheran nachts auf die Dächer stiegen, nicht, um dort zu schlafen, sondern um gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen zu protestieren, bei denen Mahmud Ahmadinejad zum Wahlsieger erklärt worden war:

"Von den Dächern ist der von Nacht zu Nacht lauter werdende Ruf 'Allah-o-Akbar' zu hören, 'Allah ist groß'. Es ist der Schlachtruf der Opposition gegen ein Regime, das sich entschlossen hat, mittels Wahlfälschung und dem Einsatz brutalster Gewalt die Rufe der Menschen nach ein wenig mehr Freiheit und Würde zu ersticken."

Die "Allah-o-Akbar"-Rufe im Iran des Jahres 2009 waren eine Re-Inszenierung der "Allah-o-Akbar"-Rufe der Jahre 1978/1979, welche die Islamische Revolution eingeläutet hatten.

Die nächtliche Dächerlandschaft Teherans.
Foto: istockphoto.com/at/portfolio/bornamir

Das versäumte Abenteuer der Revolution

1978/1979 war ich zu meinem Bedauern nicht im revolutionären Teheran, sondern im – langweiligen – Graz. Meine Eltern waren 1975 von Teheran nach Graz gezogen, und hatten mich mitgenommen. So saß ich Ende 1978 und Anfang 1979 stundenlang vor dem Weltempfänger des Vaters und hörte Revolutionsnachrichten aus Teheran. Aus dem altklugen Kind war ein altkluger, politisch interessierter Halbwüchsiger geworden, der sich danach sehnte, in den Straßen und auf den Dächern von Teheran die rhythmischen, poetischen Parolen der Revolution mitzuskandieren. Dabei zu sein, als Weltgeschichte geschrieben wurde. Immerhin waren die Revolutionäre dabei, eine 2500 Jahre alte Monarchie zu Fall zu bringen.

Jahre später sollte ich die iranisch-jüdische Schriftstellerin und Regisseurin Roya Hakakian kennenlernen, die 1978/1979, als Zwölfjährige, in Teheran von der Revolution genauso begeistert war, wie ich es wohl gewesen wäre, hätte ich die Möglichkeit gehabt, direkt, nicht bloß mittels Weltempfänger, in die revolutionäre Ekstase Teherans einzutauchen.

In ihrem Buch "Journey from the Land of No" beschreibt Hakakian eine abendliche Szene auf dem Dach ihres elterlichen Hauses im Herbst 1978:

Die Unfähigkeit, "Allah-o-Akbar" zu sagen

"Ich hüpfte über die Trennwand zwischen den Dächern und gelangte zu meinen Eltern. Vater murmelte: 'Siehst du das Helen? Menschen, so weit das Auge reicht. Das alles soll ein einziger stinkender Mullah zustande bringen?' ... 'Psst', sagte Mutter, als hätte Vater den Geheimdienst erwähnt. 'Versuche 'Allah-o-Akbar' zu sagen, Helen', neckte er sie 'oder wir riskieren es, die Goi [i.e. die Nichtjuden] zu verärgern.'

Konnte ich 'Allah-o-Akbar' sagen? Die Worte hallten in meinem Kopf, ich konnte sie aber nicht aussprechen. 'Sag es', forderte ich mich auf, 'eins, zwei, drei'. Aber ich konnte nicht. Ich hatte nie arabische Worte aussprechen, hatte nie in einer anderen Sprache als meiner Muttersprache, dem Persischen, singen müssen ... Die Aufregung pulsierte in meinem Bauch ..."

Später, als am Tag der Rückkehr Khomeinis nach Teheran, auf der Hauswand gegenüber ihres Elternhauses das Graffiti "Juden raus!", auftaucht, und sich ihr Vater, in einem Anfall geistiger Umnachtung, im Innenhof des Hauses nackt auszieht, fasst die Zwölfjährige einen Entschluss – und flüchtet auf das Dach.

"Was die Revolution für die Zukunft bringen mochte, war nicht klar. Aber ihre Forderung nach Selbstaufopferung war gewiss. Die Demonstranten wussten, wie man stirbt. Ich wusste es auch. Mochte alles andere mich verwirren – der Tod tat es nicht. Ich war bereit ... Gab es einen besseren Ort, um zu sterben, als die Erde unseres geliebten Innenhofes? ... Einen friedlicheren Platz als unter dem Schatten der Wacholderbäume? ... Auch ich würde eine Blutspur hinterlassen – und eine Heldin werden." (Sama Maani, 14.2.2017)

Fortsetzung folgt.