"Heute ist der Tag der Tage", sagt Cecilia de la Cruz. "Wir feiern das Leben, die Liebe, den Tanz und die Musik." Sie strahlt bis über beide Ohren und bewegt sich dann wieder geschmeidig im Rhythmus von brasilianischem Samba mit kapverdischem Einschlag. Der wummert aus haushohen Lautsprechertürmen von einem klapprigen Truck herunter. Die Kapverdierin ist sich ihrer Wirkung auf Zuschauer und Jury durchaus bewusst. Cecilia zeigt Haut. Viel Haut. Sie will am Faschingsdienstag als Königin gekrönt werden beim größten und farbenfrohesten Karneval Afrikas. Doch die Konkurrenz ist groß.

Es ist Faschingssamstag, und vom frühen Vormittag bis zum späten Nachmittag ziehen kostümierte Sambaschulen durch die Straßen von Mindelo, dem größten Ort der Insel São Vicente und kulturellen Zentrum der Kapverden. Am Freitag haben bereits die Kinder den schillernden Reigen eröffnet. "Es ist fast wie in Rio", erklärt Roberto stolz einem brasilianischen Fernsehteam. "Na ja, vielleicht zwei Nummern kleiner", ergänzt der Musiker verschmitzt, als er die etwas verwunderten Gesichter der Südamerikaner sieht.

Haremswächter in Paschahosen

Es geht jedenfalls deutlich afrikanischer und europäischer zu als am Zuckerhut. Neben Tänzerinnen in knappem Federboa-Outfit oder bestrapsten jungen Damen in Krankenschwesterkitteln, die genauso in Rio performen könnten, fallen kunstvolle Karnevalszüge auf. Auf einem Truck scheint eine komplette Tempelruine aus dem pharaonischen Ägypten durch die Straßen zu schweben. Dazu bewegen sich Tänzerinnen mit orientalischem Glamour, bewacht von athletischen Haremswächtern in Paschahosen.

Vieles am kapverdischen Karneval in Mindelo soll an das große Vorbild aus Rio erinnern. Afrikanische Elemente tauchen aber ebenso auf.
Foto: Marc Vorsatz

Begleitet werden die Trucks von Kindern in märchenhaften Kostümen aus dem Reich der Schwarzen Pharaonen des antiken Nubien, die wiederum von stattlichen Pappmaschee-Nashörnern auf Rädern und furchteinflößenden, mit gelbem Schlamm bemalten Kriegern verfolgt werden. Und in ih rem Schlepptau? Wird ein über dimensionaler Kopf von Albert Einstein mitgeführt. Manche Züge scheinen wohl einen Bildungsauftrag zu simulieren. Aber damit sind sie die Ausnahme und haben nicht wirklich eine Chance auf eine Prämierung. Da hat der grimmige Käpt’n Ahab mit seinem Holzbein schon etwas bessere Karten. Es gibt sogar einen historischen Bezug.

Das Mindelo von Moby Dick

Herman Melville hat Mindelo einen festen Platz in der Weltliteratur verschafft. Der amerikanische Schriftsteller ließ den hasserfüllten Kapitän auf seiner Jagd nach dem weißen Pottwal Moby Dick in Porto Grande, dem großen Hafen von Mindelo, landen. Das war im Jahr 1851. Ab dieser Zeit spielte Mindelo eine wichtige Rolle als Kohlebunkerstation für die aufkommende Dampfschifffahrt über den Atlantik. Seefahrer aus aller Welt vergnügten sich fortan in zahllosen Spelunken und Bordellen im Hafenviertel. 1958, also gut 100 Jahre später, verschwanden die letzten drei Kohlegesellschaften von der Bildfläche. Die alten Ozeandampfer waren allesamt auf Ölantrieb umgerüstet worden. Das Leben wurde ruhig in der 50.000-Einwohner-Stadt.

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Foto: Getty Images/Raul Rosa

Einige Lokale von damals überlebten bis in die heutige Zeit. Allen voran das Café Royal, das einstige Zuhause der berühmtesten Tochter der Stadt und der bedeutendsten Künstlerin des gesamten Archipels, Cesária Évora. Sie gilt als Königin der Morna, dieser bittersüßen, Moll-lastigen Musik der Kapverden, die oft mit dem portugiesischen Fado verglichen wird.

Mit dem Rücken zur Mutter

Doch Morna will an diesem Tag niemand hören. Im Café Royal haben sich am Faschingssamstag Einheimische und ein paar Segler einen Logenplatz für den Umzug gesichert. Peter Schrotmann ist einer von ihnen. Der Wiener Freizeitskipper steuert die Kapverdischen Inseln seit Jahren zur Faschingszeit an. "Was kann es Schöneres für einen Segler geben? Eines der anspruchsvollsten Reviere im Atlantik und der lebenslustigste Karneval östlich von Rio. Einfach perfekt, diese Mischung!", sagt er über Mindelo. Dazu eine willkommene Abwechslung zu den oft recht verschlafenen Orten auf den kargen Inseln des Archipels, die ihre Einwohner kaum ernähren können.

Africa Web TV

Die Kapverden sind ein armes Land, sieben Hungersnöte haben die Einwohner allein im vergangenen Jahrhundert zu bewältigen gehabt. Viele sind nach Amerika und Europa emigriert und haben "West of Africa" – so bezeichnen die Kapverdier ihr Land – für immer den Rücken gekehrt. Man fühlt sich kulturell viel eher Portugal und Brasilien verbunden als Mutter Afrika. Und der europäische Einschlag ist nicht zu übersehen, der Sklavenhandel und die Seefahrt haben deutliche genetische Spuren hinterlassen.

Glück, Job? Am besten beides

Dauerhaft verschlägt es nur wenige Europäer auf die Kapverden. Joe Würfel aus Stuttgart ist einer von ihnen. Dem Fotografen gelingt es wie kaum einem anderen, die kontrastreichen Motive des Archipels festzuhalten. Direkt an der Marina von Mindelo betreibt er eine Galerie, und seine Schwarz-Weiß-Kalender schmücken zahlreiche Wohnzimmer in Europa und Amerika. Auf den Kapverden findet er Ruhe, Inspiration und vor allem ausdrucksstarke Menschen für seine Arbeit. Oft kommen seine Protagonisten aus den Vororten von Mindelo, den Slums, wo die Resignation regiert. Wer irgendwie kann, haut ab von dort, meistens nach Portugal. Oder versucht zumindest, eine gute Partie zu machen und in ein repräsentatives Stadthaus von Mindelo zu ziehen, wie es die Tänzerin Cecilia de la Cruz getan hat.

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Mindelo auf der Insel São Vicente ist die zweitgrößte Stadt der Kapverden. Sie gilt als kulturelles Zentrum des Archipels.
Foto: Getty Images/Anthony Brawley Photography

Der alljährliche Karneval bietet dafür eine perfekte Gelegenheit. Vielleicht wartet das persönliche Glück ja an der nächsten Ecke? Oder ein Job. Oder am besten beides. Die exotischen Kostüme sorgen jedenfalls für Chancengleichheit, blenden für ein paar Tage soziale Abgründe aus. Stunde um Stunde, Tag für Tag tanzt man sich immer tiefer in einen sinnlichen Rausch. Im Schutz der lauen Nächte wird der Karneval zu einer hedonistischen Volksdroge. Die Nacht vibriert im Rhythmus der Musik, ist geschwängert vom Duft der Räucherbuden, vom Zuckerrohrschnaps und vom unstillbaren Verlangen, nichts als den Augenblick zu zelebrieren.

Fünf Tage lang sind alle Sorgen vergessen beim Karneval von Mindelo. Und wenn am Aschermittwoch alles vorbei ist, beginnt auf den Kapverden wieder der Alltag. Ganz wie beim großen Bruder Brasilien. Und eines weiß man diesseits und jenseits des Atlantiks genau: Nach dem Karneval ist vor dem Karneval. (Marc Vorsatz, 14.2.2017)