Bogdan ist ein Tiger. Der Mittzwanziger aus Bulgarien, der seit einem Dreivierteljahr in Wien lebt, blickt zufrieden auf sein Smartphone. Es zeigt an, wie viele Aufträge er in dieser Woche noch zu erledigen hat. Sieben Wohnungen, jeweils 80 bis 110 Quadratmeter, drei bis vier Stunden Zeit zum Putzen. Book a Tiger heißt die Online-Plattform, über die er seine Dienste als Reinigungskraft anbietet. Crowdwork wird diese Form der Arbeitsorganisation neudeutsch genannt. Dass Bogdan Crowdworker ist, hört er aber zum ersten Mal. Er hat ganz einfach auf Google nach einer unkomplizierten Arbeitsmöglichkeit gesucht.
Die Arbeitsbedingungen seien in Ordnung, versichert er, auch die Bezahlung. Nicht genug, um davon zu leben. Aber weil er mit seiner Freundin zusammenwohnt, ist es ein ausreichender Beitrag zur Haushaltskasse, bis er einen "richtigen" Job findet.
Bogdan ist einer von vielen Kleinselbstständigen, die eine Dienstleistung über Plattformen im Internet anbieten. Diese Arbeitsform, die Mitte der 2000er-Jahre in den USA entstanden ist und in Österreich erst vor wenigen Jahren Fuß gefasst hat, schafft auf dem Jobmarkt neue Fakten. Es entwickelt sich neben herkömmlichen Arbeitsformen ein zusätzliches Segment des Jobmarkts.
Arbeitsrecht auf der Probe
Während Regierung und Sozialpartner über einen kollektivvertraglichen Mindestlohn von 1500 Euro für Vollzeitbeschäftigte diskutieren, ist die Lebensrealität vieler Dienstleister immer weiter von einer geregelten 40-Stunden-Woche entfernt. Sogenannte atypische Beschäftigungsformen wie Leiharbeit, Teilzeit, befristete Beschäftigung und viele Formen von Selbstständigkeit stellen das Arbeitsrecht auf die Probe.
Ist das Tempo der Veränderung so hoch, dass Gesellschaft und Gesetzgebung zwangsläufig hinterherhinken? Oder fehlt es nur am politischen Willen? Oder, ganz anders, wird das Problem überschätzt?
Die Bedrohung ist real, betonen Arbeitnehmervertreter. Dass es sich bei Crowdworkern um Selbstständige handelt, wie es die meisten Plattformbetreiber betonen, wollen sie nicht einfach so hinnehmen. Es sei "oft ein Trick", wie es Sylvia Kuba von der Arbeiterkammer formuliert, dass die Angebote der Plattformen nichts mit einem Angestelltenverhältnis zu tun hätten. Im Grunde ginge es um eine Fortsetzung der ewigen Auseinandersetzung zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern, die nun eine neue Dimension erreicht habe.
Crowd ist nicht gleich Crowd
Sicher ist, dass sich plattformbasierte Arbeit nicht so einfach über einen Kamm scheren lässt. Einerseits sind es physische Dienstleistungen wie Essenslieferungen per Fahrrad oder eben der Haushaltsputz, die online feilgeboten werden. Solche ortsgebundenen Plattformen werden nicht nur für ganze Branchen zur existenziellen Gefahr, sondern auch zu einem Fall für die Gerichte. Der Fahrdienst Uber musste sich beispielsweise aus Deutschland zurückziehen, nachdem es als rechtswidrige Konkurrenz zu Taxiunternehmen eingestuft wurde.
Arbeitsrechtlich so richtig problematisch wird es bei der Bildschirmarbeit. Bei Aufträgen in der digitalen Welt besteht unter den Crowdworkern ein Gefälle: Simple, pro Klick abgerechnete Arbeit umfasst Aufgaben wie das Beschriften von Bildern oder die Kategorisierung von Produkten. Den kreativen Gegenpol bilden Programmierer und Designer, die für Aufträge mitunter gut entlohnt werden.
"Es gibt Leute, die verdienen viel, sehen sich als Selbstständige und wollen auch nichts daran ändern", räumt Kuba ein. Im Zentrum der Bemühungen stünden vielmehr jene, die für ein paar schnelle Klicks im Centbereich entlohnt werden.
Verschwimmende Grenzen
Dieses digitale Crowdworking trifft den Nerv der Zeit. Dabei wird die Arbeit in kleine Häppchen aufgeteilt und von vielen unterschiedlichen Personen im Netz gleichzeitig erledigt. Arbeitszeit ist dann, wenn nichts anderes ansteht – auch für kurze Zeiträume. Der Arbeitsplatz ist dort, wo es Internet gibt. Die Grenze zwischen Freizeit und Erwerbszeit verschwimmt ebenso wie jene zwischen Arbeitnehmern und Selbstständigen.
Für alleinerziehende Eltern kann es beispielsweise ein Segen sein, genau dann und so lange arbeiten zu können, wie es die anderen Verpflichtungen zulassen. Ein weiteres Beispiel: der Pendler, der im Zug den Laptop aufklappt, um das Einkommen in sonst ungenutzter Zeit aufzubessern.
Für das Schutzbedürfnis gegenüber dem Auftraggeber ist es aber zweitrangig, ob man sich nur etwas dazuverdienen will oder finanziell dauerhaft von Crowdworking-Aufträgen abhängig ist.
Mehr als ein Marktplatz?
Die meisten Plattformen betonen, sie seien nur Vermittler zwischen Auftraggebern und Auftragnehmern. Vermieden wird alles, was den Eindruck erwecken könnte, dass sie Form und Inhalt der Arbeitsleistung vorgeben. Für Kritiker von Gewerkschaft und Arbeiterkammer ist diese Selbstcharakterisierung als "Marktplatz" in vielen Fällen irreführend. Auftraggeber würden Tätigkeiten auf Selbstständige auslagern und sich damit vieler Pflichten entledigen, etwa die Abführung von Sozialabgaben. Längst nicht alle Crowdworker zahlen allerdings von sich aus ins Sozialsystem ein. Auch bei der Einkommenssteuererklärung werden solche Einkünfte nicht selten unterschlagen. Die Chance, erwischt zu werden, ist gering.
Unmittelbar schwerer wiegt aber, dass Crowdworker deutlich weniger Rechte haben als im Falle einer geregelten Anstellung: Überstundenabgeltung, Urlaubs- und Pensionsansprüche, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder die Möglichkeit, Kollektivverträge und damit Mindestlöhne und Urlaubsvereinbarungen abzuschließen.
Dem Rating ausgeliefert
Würden diese Nachteile überwiegen, könnte man einwenden, dann wählte wohl kaum jemand freiwillig den Weg in die Selbstständigkeit. So frei, wie es scheint, sind Crowdworker aber nicht. Oft seien sie an die jeweilige Plattform gebunden, sagt der Soziologe Jörg Flecker von der Uni Wien. "Entscheidend ist, dass Auftraggeber die Crowdworker nach der Leistungserbringung bewerten können. Dieses Rating übt einen großen Druck aus. Ständige Erreichbarkeit und kurze Reaktionszeiten sind Voraussetzung, um überhaupt einen Auftrag zu bekommen. Folge ist, dass die Leute am Wochenende und in der Nacht arbeiten. Wenn Sie eine Woche Urlaub machen und nicht reagieren, ist das Rating in Gefahr. Bis man einmal fünf Sterne hat, muss man sich viel gefallen lassen, nicht oder schlecht bezahlte Arbeit in Kauf nehmen. Und wenn man einmal ein Toprating hat, wechselt man nicht so bald die Plattform, weil man dann neu anfangen müsste."
Vermittler würden somit eine Art Monopolstellung einnehmen und entsprechend viel mitschneiden, sagt Flecker. Deshalb wäre es gerechtfertigt, würde man Steuern und Sozialabgaben direkt bei ihnen einheben. Der Status quo ist davon weit entfernt. Zu prüfen, ob Abgaben entrichtet werden, wird bei Auslagerung an Selbstständige immer schwieriger, weil es viel mehr Akteure gibt.
Ist das Arbeitsrecht also von gestern und erfasst immer größere Teile der sich verändernden Arbeitswelt nicht mehr? Der Befund wäre vorschnell. Schon mit einem verstärkten Druck auf die Plattformen, bestehende Regeln einzuhalten, könnten bessere Arbeitsverhältnisse und soziale Absicherung erreicht werden. "Plattformen sollten dazu gedrängt werden, mehr Verantwortung für die Einhaltung von bestehenden Spielregeln zu übernehmen", sagt Arbeitsrechtler Martin Risak von der Uni Wien.
Wie das gehen soll? Einerseits organisieren sich Crowdworker untereinander und tauschen sich auf Internetseiten und in Foren über Plattformen aus. Informationen über ausbleibende Bezahlung oder unfaire Benotung der Arbeit sprechen sich herum. Häufen sich Beschwerden, sind Auftraggeber oder Plattformen bei der Crowd unten durch.
In die Pflicht nehmen
Anbieter können aber auch von außen stärker in die Pflicht genommen werden. Je beliebter etwa die Vermietungsplattform Airbnb wird, desto stärker wird der Druck von Städten und Fiskus, dass die Plattform pauschal Abgaben abführt oder Daten an Behörden weiterleitet, um einzelne Mietverhältnisse überprüfen zu können.
Ein anderer Weg ist jener über die Arbeitsgerichte. "Die Problematik ist noch nicht ausjudiziert, das fängt erst an", so Sylvia Kuba von der Arbeiterkammer. "Man kann den Plattformen genau nachweisen, wann sie mehr sind als ein bloßer Vermittler. Dann zum Beispiel, wenn die Putzkraft für ihre Tätigkeit einen fixen Stundensatz bekommt", sagt Kuba.
In anderen Ländern prüfen Gerichte bereits, ob eine Plattform im Einzelfall wirklich nur Aufträge vermittelt oder den Crowdworkern detaillierte Arbeitsvorgaben macht – so wie ein Vorgesetzter gegenüber seinen Angestellten.
Ein weiterer Weg wäre schließlich, die bestehenden Regeln zu ändern, anstatt das bestehende Arbeitsrecht zu bemühen. Im neuen Regierungspakt zwischen SPÖ und ÖVP findet sich dazu nichts, im roten "Plan A" wird ein eigenes Crowdworkinggesetz zumindest als Ziel formuliert.
Umkehr der Beweislast
Risak plädiert in erster Linie für eine Ausweitung des Arbeitnehmerbegriffs. Erfüllt das Verhältnis zwischen Plattform und Auftragnehmer bestimmte organisatorische Eigenschaften, müsste automatisch von einem Arbeitsverhältnis ausgegangen werden. Damit käme es de facto zu einer Umkehr der Beweislast: Plattformen müssten belegen, warum es sich bei ihren Crowdworkern nicht um Arbeitnehmer handeln soll, sondern um Selbstständige.
Denkbar sind auch Regelungen wie bei der Arbeitskräfteüberlassung. Dort ist nicht nur die Leiharbeitsfirma dafür verantwortlich, dass ordentlich bezahlt und Abgaben geleistet werden, sondern über Ausfallshaftungen auch der, der die Leiharbeitsfirma beauftragt. Kollektivverträge für gewisse Formen von Selbstständigkeit wären eine weitere Möglichkeit.
Was spricht dagegen, dass man das Arbeitsrecht nicht schon längst an die neuen Realitäten angepasst hat? "Das Problem ist nicht die juristische Umsetzung von effektiven Schutzregeln, sondern die politische Durchsetzung", sagt Kuba. Karin Zimmermann, die sich im Österreichischen Gewerkschaftsbund mit dem Thema beschäftigt, ergänzt: "Der politische Mainstream ist zu sagen, innovative Unternehmen müssen sich entfalten können und bringen Wachstum und Jobs. Aber es ist nichts Innovatives daran, Arbeitsrecht zu umgehen."
Eine Medaille, zwei Seiten
In der Wirtschaftskammer betont man indes die Vorteile des Crowdworkings. "Wir sind sehr aufgeschlossen gegenüber neuen Arbeitsformen", sagt Martin Gleitsmann, Leiter der Abteilung Sozialpolitik. Zwar hätten sich tatsächlich neue Formen der Selbstständigkeit entwickelt. Die Befürchtung, dass Arbeitgeber dadurch das Arbeitsrecht umgehen, hält er aber für übertrieben. Das Kernargument: "Es gibt keinen Zwang zur Selbstständigkeit. Jeder kann frei wählen, ob er einen Auftrag auf der Plattform annimmt oder nicht." Der bestehende arbeitsrechtliche Rahmen ist für Gleitsmann ausreichend. Die Arbeitnehmerseite sei auch noch nie auf die Wirtschaftskammer zugekommen mit dem Begehren, etwas daran zu ändern.
Findet die steigende, aber immer noch kleine Zahl der Crowdworker also innerhalb von Gewerkschaft und Arbeiterkammer einfach kein Gehör? Konzentrieren sich diese noch immer zu sehr auf die Stammklientel mit geregeltem Vollzeitarbeitsverhältnis? Kuba und Zimmermann verneinen. Es sei ein Prozess, und es dauere, bis das Bewusstsein dafür auf alle Ebenen vordringt. Aber die Herausforderungen der Digitalisierung seien in beiden Organisationen ein zentrales Thema.
Für Arbeitsrechtler Risak ist Leidensdruck ein entscheidender Faktor: "Solange Crowdworking in erster Linie als Zuverdienst gesehen wird, solange regen sich die Leute nicht auf. Es muss erst genug Menschen in ihrer Lebensrealität hart treffen, damit sie anfangen, etwas dagegen zu tun." (Simon Moser, Alexander Hahn, 12.2.2017)