Norman Ohler
Der totale Rausch

Drogen im Dritten Reich
Kiwi Taschenbuch 2017
363 Seiten, 11,20 Euro

Wien – Spätestens seit "Breaking Bad" und Walter White wissen auch Menschen, die sonst wenig mit Drogen am Hut haben, was es mit Crystal Meth auf sich hat. Dazu kamen in den letzten Jahren zahllose Berichte über die verheerenden Auswirkungen dieser Substanz, die dennoch von immer mehr Menschen konsumiert wird. Etwas weniger ist über die lange Geschichte dieser synthetischen Droge bekannt, die offiziell als Methamphetamin bezeichnet wird. Und fast nichts wusste man lange darüber, wie beliebt die stark aufputschende Substanz bei den Nationalsozialisten war.

Einige verstreute Fachpublikationen dazu liegen zwar seit einigen Jahren vor, und mit Werner Piepers Anthologie "Nazis on Speed" gibt es seit 2002 auch eine Anthologie zum Thema. Doch die erste gründliche Monografie über das von der Zeitgeschichte wenig erforschte Thema hat vor eineinhalb Jahren ein Nichthistoriker vorgelegt: der deutsche Schriftsteller und Journalist Norman Ohler. Sein Besteller mit dem Titel "Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich" ist nach 25.000 verkauften gebundenen Exemplaren vor kurzem nicht nur in einer deutschen Taschenbuchausgabe erschienen.

Übersetzungen in rund zwei Dutzend Sprachen

Das Pionierwerk wird in diesen Monaten auch in ziemlich genau zwei Dutzend Sprachen veröffentlicht, unter anderem auch auf Chinesisch. In den USA erscheint das Buch unter dem Titel "Blitzed" im März, und die "New York Times" hat dem Autor bereits im Dezember ein sehr wohlwollendes Porträt gewidmet. Im deutschen Feuilleton war man sich recht uneinig, wie man mit dem brisanten Stoff umgehen soll, den Ohler in äußerst bekömmlicher Form darreicht. Insbesondere in akademischen Fachkreisen ist das Buch nach wie vor umstritten, auch wenn die positiven Einschätzungen überwiegen.

Für den 2015 verstorbenen Hans Mommsen, einer der wichtigsten Historiker mit Schwerpunkt Nationalsozialismus, änderte Ohlers Buch "das Gesamtbild" des NS-Regimes. Der britische NS-Medizinhistoriker Paul Weindling hingegen schrieb im Fachblatt "Nature" vor wenigen Wochen einen Verriss, während Hitler-Biograf Ian Kershaw das Buch für eine wichtige wissenschaftliche Studie hält, die ausgezeichnet recherchiert sei.

"Auch bei den französischen Experten ist es ganz ähnlich", sagt der 46-jährige Ohler im Gespräch mit dem "Standard". Er habe den Eindruck, dass es vor allem von ihrer Persönlichkeit abhänge, was sie von seinem Buch hielten: "Die mit einem offenen Geist finden es meist sehr gut; die engstirnigeren lehnen es eher ab."

Erstaunliche Funde in den Archiven

Ohler, der nie Geschichte studierte, aber die Hamburger Journalistenschule absolvierte, bezeichnet seinen eigenen Zugang im Rückblick auf die fünf Jahre dauernde Arbeit am Buch ursprünglich als "ein bisschen naiv" Er habe gedacht, man müsse erst einmal ganz viel Zeit in Archiven verbringen. "Und das bringt ja auch viel." Andererseits würden sich manche NS- Historiker die Mühe gar nicht mehr machen und bloß aus Sekundärliteratur schöpfen, so der 46-Jährige mit einem kleinen Seitenhieb auf Joachim Fests Hitler-Biografie.

Was Ohler, der sich zum Zeitpunkt des Interviews ausgerechnet in der kolumbianischen Drogenhauptstadt Medellin aufhält, seinen mehrjährigen Recherchen zutage förderte, ist in mehrerlei Hinsicht erstaunlich. So entdeckte er im Militärarchiv in Freiburg neue Dokumente über erste militärische Methamphetaminexperimente im Frühjahr 1939 und dann über den genau geplanten Einsatz der Droge bei den Blitzkriegen gegen Polen und Frankreich. Im Bundesarchiv in Koblenz arbeitete er den Nachlass von Hitlers Leibarzt Theodor Morell akribisch durch – darunter eine umfangreiche Auflistung jener Substanzen, die Hitler ab 1936 von Morell injiziert bekam.

Neues Syntheseverfahren für Metamphetamin

Ohler hat aber auf Anraten von Hans Mommsen, der so etwas wie ein Mentor des Buchs gewesen sei, auch die lange Drogenvorgeschichte Berlins und der deutschen Pharmaindustrie erforscht: Insbesondere in den Archivmaterialien zu den Berliner Temmler-Werke, wo der Chefchemiker Fritz Hauschild 1937 ein neues Syntheseverfahren für Methamphetamin erfand, machte er aufregende Funde hinsichtlich des anregenden Wundermittels, das unter dem Namen Pervitin offensiv vermarktet wurde.

Norman Ohler (hier in den Ruinen der Temmler-Werke in Berlin) ist überzeugt, dass sich die aufputschenden Drogen perfekt in die Blitzkrieg-Strategie der Nazis einfügten.

Pervitin durchdrang bald den deutschen "Volkskörper" und hielt natürlich nicht nur die deutsche Hausfrau mit methamphetaminhältigen Pralinen bei Laune. Für die deutschen Überfälle auf Polen und Frankreich im Jahr 1939 wurden unter den Soldaten Millionen Pervitin-Tabletten verteilt, um Angst abzubauen und um länger Krieg führen zu können. Für Ohlers ist ganz klar, dass die aufputschende Droge bei den Blitzkriegen eine mitentscheidende Rolle spielte: "Gerade beim Krieg gegen Frankreich ging es auch explizit um den Zeitfaktor, deshalb wurde Pervitin mit dem Weckmittelerlass genau vorgeschrieben in die Truppe eingeführt."

Konzentration ganz auf die Drogen

Heißt das also, dass es ohne Pervitin keine erfolgreichen Blitzkriege gegeben hätte? "Da ich mich ganz auf die Rolle der Drogen konzentriert habe, mag ein solcher Eindruck entstehen", gibt Ohler zu, rechtfertigt sich aber im gleichen Atemzug: "Mommsen hat mich immer wieder davor gewarnt, monokausal zu argumentieren, und das tue ich im Buch auch nicht: Meiner Meinung nach haben sich die amphetaminhaltigen Drogen perfekt in diese neue Form der Kriegsmaschinerie eingefügt. Ohne Pervitin hätte es darin wohl etwas mehr geknirscht."

Pervitin ist chemisch nichts anderes als Crystal Meth. 1939 wurden deutsche Soldaten mit Millionen von Pervitin-Pillen proviantiert.
Komischn/wikimedia

Ursprünglich wollte sich Ohler, der eigene Erfahrungen etwa mit LSD bereitwillig zugibt, in seinem Buch ganz auf die Verwendung von Pervitin im Nationalsozialismus konzentrieren, die erst ab 1941 langsam wieder gebremst wurde. Doch es gibt auf den über 300 faktenreichen Seiten, die in sehr suggestiver Sprache verfasst sind und nur wenige Wortspiele auslassen, noch ein zweites Buch zu lesen: eine Monografie über den erstaunlichen Drogenkonsum Adolf Hitlers, der sich aus den Aufzeichnungen Theodor Morells rekonstruieren ließ.

So high war Hitler Ende 1944

Morell, ein Berliner Urologe und Promi-Arzt, wurde ab 1936 hauptberuflich für Adolf Hitler tätig und versorgte ihn zunächst mit eher harmlosen Vitamin- und Hormonpräparaten. Doch vor allem nach dem Stauffenberg-Attentat im Juli 1944 und zur Linderung von Hitlers Schmerzen änderte sich die Zusammensetzung der Injektionen: "Hitler nahm ab dieser Zeit extrem viel harte Drogen", so Ohler: "In wenigen Monaten erhielt er über 50-mal Kokain in hoher Dosis, dazu Eukodal und etliche andere harte Mittel."

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Adolf Hitler und Theodor Morell, der ab 1936 sein Leibarzt war: Insbesondere nach dem Stauffenberg-Attentat im Juli 1944 spritzte Morell seinem "Patienten A" viele harte Drogen.
Foto: Ullstein Bild / picturedesk.com

Von seinen Kritikern wurde beanstandet, dass diese Darstellung von Hitler als Junkie zum besseren Verständnis seiner verbrecherischen Politik nicht wirklich viel beiträgt. Auch in diesem Punkt ist der Autor im Gespräch etwas zurückhaltender als im Buch, das einen ganz eigenen argumentativen Sog entwickelt: Für Ohler habe Hitlers exzessiver Kokain- und Morphin-Konsum jedenfalls zu seiner "Bunkermentalität" beigetragen: "Er hat sich immer mehr von der Realität entkoppelt und sich in seiner Betonburg verschanzt. Und zu diesem Sichverschanzen gehören auch die pharmakologischen Bunker, weil er bis zuletzt nichts mehr hören oder fühlen wollte."

Ohlers Buch endet mit den vergeblichen Versuchen der Amerikaner, Theo Morell nach dem Krieg zu Hitler befragen. Doch dessen ehemaliger Leibarzt war nach einigen Schlaganfällen nicht mehr in der Lage, noch irgendwelche konstruktiven Hinweise zu geben. Und wohl auch deshalb geriet die Geschichte von Hitlers Drogenabhängigkeit in Vergessenheit, ehe sie mehr als 70 Jahre danach eine aufwühlende Darstellung findet.

Keine Ausnüchterung nach 1945

Damit ist Ohlers Bericht fürs Erste zu Ende. Der Autor hat aber noch sehr viel mehr recherchiert, als im Buch Platz hatte – und beispielsweise herausgefunden, dass die deutsche Nachkriegsgeschichte ganz und gar nicht die große Ausnüchterung brachte: "Die Produktionszahlen von Pervitin stiegen in den 1950er-Jahren wieder an", sagt Ohler: "Methamphetamin ist im Grunde auch die perfekte Droge für Kriegsverlierer: Sie unterdrückt das Hungergefühl und macht optimistischer."

Doch nicht nur in Berlin hätten viele der Trümmerfrauen Pervitin geschluckt. Ähnlich sei es nach 1945 in Japan gewesen: Dort habe man Hiropon eingenommen, das ganz ähnlich wirkt, nur etwas anders hergestellt wird. Für Ohler besteht damit wenig Zweifel, dass sowohl der deutsche wie auch der japanische Wiederaufbau von Metamphetamin gestützt waren.

Aber auch im Sport kam Pervitin in den 1950er-Jahren zum Einsatz. Belegt und weithin bekannt ist, dass der österreichische Bergsteiger Hermann Buhl 1953 bei seiner legendären Erstbesteigung des 8125 Meter hohen Nanga Parbat Pervitin schluckte. Ohne die Droge hätte er seinen heroischen 41-stündigen Alleingang ziemlich sicher nicht überlebt.

Basierte das Wunder von Bern auf Pervitin?

Dann gab es auch noch das deutsche Wunder bei der Fußballweltmeisterschaft 1954: Die deutsche Elf besiegte im Finale von Bern das hochfavorisierte Team Ungarns. Bereits unmittelbar nach dem Finale gab es das Gerücht, dass die deutschen Spieler gedopt gewesen seien. "Man weiß mittlerweile, dass sie vor dem Match tatsächlich Spritzen erhielten", sagt Ohler, und Sporthistoriker mutmaßen, dass in den Spritzen nicht Vitamin C war, sondern Pervitin.

"Dafür gibt es aber keine eindeutigen Beweise", sagt Ohler, der ursprünglich einen Nazi-Drogenroman schreiben wollte, der 1954 endet. Dieses Buch will er nun nachholen – mit den entsprechenden dichterischen Freiheiten, die man sich bei einem Sachbuch nicht nehmen kann. Zuvor wird er diesen Herbst aber noch einen anderen historischen Roman veröffentlichen, der im 18. Jahrhundert spielt. "Da kommt als einzige Droge Laudanum vor." (Klaus Taschwer, 16.2.2017)