Im Blogbeitrag "Nachts über den Dächern von Teheran" war die Rede von meiner kindlichen Verwunderung über die Mitteilung der Großmutter, in Teheran würden die Menschen im Sommer nachts auf den Dächern schlafen. Da ich nicht wusste, dass es sich bei den Teheraner Dächern – im Unterschied zu den Dächern in Düsseldorf, wo ich meine frühe Kindheit verbracht hatte – um Flachdächer handelte, versuchte ich mir die Großmutter schlafend auf einem Düsseldorfer Schrägdach vorzustellen. "Kein Wunder also", hörte ich mich sagen, "dass der Iran zurückgeblieben ist."

Jahre später, als die Teheraner im Sommer des Jahres 2009 nachts auf die Dächer stiegen, um mit der Parole "Allah-o-Akbar" ("Gott ist groß") gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen zu protestieren, fiel mir jene kindliche Phantasie von der Großmutter auf dem Schrägdach wieder ein.

Die "Allah-o-Akbar"-Rufe des Jahres 2009, die an die "Allah-o-Akbar"-Rufe der Islamischen Revolution der Jahre 1978/79 erinnerten, richteten sich nicht bloß gegen gefälschte Wahlen, sondern gegen ein Regime, das entschlossen war, die Rufe der Menschen nach ein wenig mehr Freiheit und Würde mit brutaler Gewalt zu ersticken.

Das grüne "V" wurde zum Zeichen des Protests. Viele haben sich vermummt, um nicht erkannt zu werden.
Foto: AP/Ben Curtis

Aber warum gerade "Allah-o-Akbar"?

Aber warum gerade "Allah-o-Akbar"? Hatte nicht genau dieses "Allah-o-Akbar" 1978/79 jene Revolution eingeläutet, die in ein System mündete, gegen das die Menschen 2009 aufbegehrten? Waren und sind die Iraner Opfer einer Art Wiederholungszwang, der sie veranlasst immer und immer wieder die selben historischen Fehler zu begehen?

Bekanntlich war für Freud der Wiederholungszwang Ausdruck des Todestriebs. Sind wir Iraner demnach eine Nation von lebensmüden Selbstmördern?

In einer beklemmend poetischen Szene beschreibt die iranisch-jüdische Schriftstellerin Roya Hakakian, in ihrem Buch "Journey from the Land of No", wie sie als Kind zur Symptomträgerin des Todestriebs einer ganzen Gesellschaft wurde. Am Tag der Rückkehr Khomeinis nach Teheran taucht auf der Hauswand gegenüber ihres Elternhauses ein Graffiti auf: "Juden raus!" und ihr Vater zieht sich, in einem Anfall geistiger Umnachtung, im Innenhof nackt aus. Daraufhin fasst die Zwölfjährige einen Entschluss – und flüchtet aufs Dach.

"Die Demonstranten wussten, wie man stirbt. Ich wusste es auch. Mochte alles andere mich verwirren – der Tod tat es nicht. Ich war bereit ... Gab es einen besseren Ort, um zu sterben, als die Erde unseres geliebten Innenhofes? ... Einen friedlicheren Platz als unter dem Schatten der Wacholderbäume? ... Auch ich würde eine Blutspur hinterlassen – und eine Heldin werden."

"Poetischer Suizidimpuls"

Diesen "poetischen Suizidimpuls" einer von der Revolution gleichermaßen begeisterten wie vor den Kopf gestoßenen Zwölfjährigen würde Freud als Ausdruck des Todestriebs der iranischen Gesellschaft auffassen – genauso wie jenen "poetischen Wiederholungszwang", der die Iraner im Sommer 2009 veranlasste, nachts auf ihren Dächern ausgerechnet den Schlachtruf der Islamischen Revolution des Jahres 1979 zu wiederholen.

Wir könnten die "Allah-o-Akbar"-Rufe des Jahres 2009 allerdings auch als eine Art Zitat verstehen: Dann hätten die Iraner, indem sie im Sommer 2009 die "Allah-o-Akbar"-Rufe des Revolutionsjahres 1979 zitierten, ihren Unterdrückern – allen voran dem iranischen Führer, Ali Khamanei – eine Botschaft übermitteln wollen: Erinnert Ihr euch, wie es damals war? Es ist bald wieder so weit.

Aber verstricken sich die Menschen, indem sie die Sprache ihrer Unterdrücker sprechen, und sei es nur, um von ihnen verstanden zu werden, nicht in deren unheilvolles "Netz der Signifikanten"? Schreiben oder schreien sie "Allah-o-Akbar" rufend ihre Unterdrückung nicht fort?

In seinem Buch "Die politische Suspension des Ethischen" erwähnt Slavoj Žižek einen slowenischen Kommunisten, der 1943 in einem von den italienischen Faschisten errichteten KZ, auf der Insel Rab, eine Rebellion anführte, und mehr als 2000 italienische Soldaten besiegte. Nach dem Krieg wurde er von den neuen kommunistischen Machthabern in ein anderes KZ gebracht, wo sie ihn 1953 zwangen, zusammen mit anderen Gefangenen, ein Denkmal zur Feier des zehnten Jahrestages der Rebellion auf der Insel Rab zu errichten – ein Denkmal also für sich selbst.

Poetische Ungerechtigkeit

Žižek sieht im Schicksal dieses kommunistischen Revolutionärs eine Parallele zum Schicksal von Millionen Menschen, die nachdem sie im Kampf für die Revolution das alte Regime gestürzt hatten, von Stalin versklavt und gezwungen wurden, Denkmäler zur Erinnerung an ihre eigene revolutionäre Vergangenheit zu errichten. Eine, in den Worten Žižeks, "poetische Ungerechtigkeit".

Für Poesie hatten wir Iraner immer schon eine Ader – warum also nicht auch für „poetische Ungerechtigkeit“? So gesehen, haben wir uns 2009 "Allah-o-Akbar" rufend, und ganz im Sinne von Žižeks "poetischer Ungerechtigkeit", unser eigenes Denkmal gesetzt. Uns und unserer revolutionären Vergangenheit. Das taten wir allerdings – im Unterschied zu den Menschen in den Beispielen von Žižek – aus freien Stücken und in einem Augenblick, in dem die Befreiung aus den Fesseln der religiösen Diktatur näher war als je zuvor seit dem Bestehen der Islamischen Republik.

Ob wir einmal in Erinnerung an unsere "Allah-o-Akbar"-Rufe des Jahres 2009, unsere gegen uns selbst gerichtete Version der "poetischen Ungerechtigkeit", sagen werden: "Kein Wunder also, dass der Iran zurückgeblieben ist"?

Roya Hakakian
Foto: Marion Ettlinger

Roya Hakakian überlebte übrigens ihren Suizidimpuls. Sie begann ihrem Notizbuch einen Abschiedsbrief anzuvertrauen, der nicht fertig werden wollte. Wie Scheherazade, die "Stadtgeborene", die dem mordlustigen König eine nicht und nicht enden wollende Geschichte erzählte. Hakakian schreibt noch immer. (Sama Maani, 21.2.2017)

Ende der Serie.

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