Herr Niedersüß kam als Praktikant zu Knize, 1957 machte er dort die Herrenmeisterprüfung.

Foto: Regine Hendrich

1963 kaufte er dann das Geschäft von C. M. Frank rechts vom Hotel Imperial am Ring. Nach 13 Jahren war er wieder zurück am Graben und kaufte Peter Knize das Geschäft ab. Seine damalige Frau nannte ihn "größenwahnsinnig".

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Herr Niedersüß, seit sechzig Jahren im Schneiderhandwerksgeschäft und seit 1976 Eigentümer der ehemaligen k. u. k. Hofschneiderei Knize, entschuldigt sich zunächst für die seiner Meinung nach relative Unaufgeräumtheit im perfekt aufgeräumten oberen Bereich der von Adolf Loos ausgestatteten Räumlichkeiten seines Geschäftes.

Sie hätten nämlich gerade noch rechtzeitig zur Ballsaison ein Frackhemd mit spezieller Mischung (73 Prozent Zephir und 27 Prozent Leinen) zum wohlfeilen Stückpreis von 480 Euro (Maß) und etwas billiger (Konfektion) hereinbekommen, und sie wüssten noch nicht so genau, wo das Hemd ausgestellt werden solle. Bald wird es auch ein Frackhemd mit 55 Prozent Leinenanteil geben (für Philharmoniker!), Leinen sauge nämlich den Schweiß und die Feuchtigkeit auf. Und für richtig hart arbeitende Dirigenten gibt es das Hemd dann auch mit 100 Prozent Leinen.

Er bittet mich in sein Büro, das ein holzgetäfeltes Kammerl ist, mit schönem Blick hinaus auf den Graben. Auf seinem Schreibtisch liegen ein paar Sachen herum, darunter ein Zettel mit etwas drauf, das aussieht wie Gras (zum Rauchen), von dem Herr Niedersüß zunächst aber nicht recht weiß, was es genau ist. Dann fällt es ihm wieder ein: "Das ist der Lurch aus dem Schloss meines Safes!" Den hat er dort am Sonntag zuvor herausgefuzelt, als er ihn nicht mehr aufgekriegt hat, er wollte ein paar Scheine für die Reise nach Prag, die am darauffolgenden Montag auf dem Programm stand, herausholen. Dort in Prag hat der Knize nämlich noch eine Dependance, in New York und Bad Gastein, wie immer noch über dem Eingang an der Adresse Graben 13 steht, aber schon lange nicht mehr.

Beim k. u. k. Hofschneider Knize gäbe es noch ein Frackhemd mit spezieller Mischung (73 Prozent Zephir und 27 Prozent Leinen) zum wohlfeilen Preis von 480 Euro.
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Jeder Knize-Neukunde

Der Meister trägt heute zum fliederfarbenen Hemd einen dunklen Anzug mit Weste, gefertigt aus einem Stoff, der Winterfresko heißt und etwas dicker und dunkel ist, aber nicht schwarz. Den hat er anfangs aus der Kollektion eines englischen Händlers sehr teuer eingekauft, bis er ihn bei einem Italiener gefunden hat, der ihn deutlich billiger anbot. "Und seither beginnt jeder Knize-Neukunde mit einem Anzug aus diesem Stoff", erklärt er lachend.

"Die Geschäfte laufen gut?", frage ich ihn, und er antwortet: "Ach Gott!" Frag mal einen am Graben, wie die Geschäfte laufen, natürlich nicht mehr so gut, seit die Russen ... Und die Chinesen, obwohl sie eigentlich immer mehr zu werden scheinen, werden hier auch immer weniger. Obendrein müsse "der Chinese" daheim immer etwas "zum Herzeigen" und also "zum Angeben" haben, weiß Herr Niedersüß. "Ich hab mir einen Anzug vom Brioni gekauft!" kommt dort auf Chinesisch gesprochen einfach besser an als "Ich war beim Knize am Graben". Die Firma Brioni übrigens – weltberühmt, seit Kanzler Schröder deren Anzüge trägt – hat sich letztes Jahr einen sogenannten Relaunch verpasst mit einem neuen "Kreativen" an der Spitze, der von der Mode und erst recht von der Schneiderei gar nichts verstand. Er setzte einfach den Markennamen in Fraktur und ließ die Herren von Metallica plakatieren, nach einem halben Jahr war der Neue Geschichte.

Ausdruck von Stil

Es ist nicht einfach, sich in diesen Zeiten mit dem Verkauf von Anzügen zu behaupten, die, so Niedersüß, keiner Mode folgen, sondern schlicht Ausdruck von Stil wären. Aber selbst die Schneider in der berühmten Londoner Savile Row, bisher allesamt Traditionalisten, unterwerfen sich mittlerweile dem Modegeschmack der Neureichen und nähen für diese kurze Sakkos, zu tief sitzende Hosen, was Herr Niedersüß schlicht "ekelhaft!" findet.

Dieses Anbiedern an kurzlebige Trends nützt den Londonern aber trotzdem nichts, weil die Immobilienpreise dort mittlerweile so horrend hoch wären, dass manchmal drei Schneider in einem Geschäft beisammensitzen. Ein Lokalaugenschein im zurückliegenden Sommer, es war ein sehr heißer Tag, überzeugte Herrn Niedersüß von der dort abnehmenden Qualität und der zunehmenden Lustlosigkeit der Schneider.

Immer wieder wollen es aber natürlich trotzdem auch Kunden von ihm wissen und lassen dort fertigen, kämen dann aber wenn schon nicht reumütig so doch sehr gerne wieder zu ihm zurück, so wie der Eine neulich: "Sein Anzug hatte nicht einmal Einlagen im Ärmel!", schüttelt es Herrn Niedersüß noch immer, wenn er davon erzählt. Einlagen im Ärmel wären bei Knize nämlich "selbstverständlich Standard".

Wer Schneidern zum Beruf machen will, muss Gas geben meint Niedersüß.
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Wie das Schneidern geht, das weiß Herr Niedersüß, seit er die Modeschule in Michelbeuern besucht hat, wo es damals noch "Fachlehrer gab, die auch etwas konnten und selbst ein Geschäft hatten". Das war freilich 1956. Heute kämen zwar von überallher Absolventen diverser Modeschulen, die bei ihm dann doch noch lernen möchten, was eine schöne Naht ist, aber die schickt er alle wieder weg. Und von den sechs Lehrlingen, die er in den letzten Jahren ausgebildet hat, konnte er genau einen gebrauchen, weil die anderen "sich nicht mehr bemühen".

Beim Handwerk des Schneiderns ginge es im Wesentliche darum, das "schöne Nähen" zu lernen, und in der Folge darum, das "schöne Nähen in einer gewissen Zeit zu erledigen". Einem Maturanten, den er besonders förderte, musste er am Ende der Lehrzeit bescheiden, dass er sich einen Job suchen müsse. "Als Hobbyschneider war er ja okay", sagt Niedersüß. "Aber wer das als Beruf machen will, der muss halt mehr Gas geben."

Die Preisfrage

Darum ist es hier bei Knize nach wie vor so, dass die meisten Schritte der Anzugfertigung von ihm selbst erledigt werden: Maß nehmen – seine Sache. Schnitt aussuchen – seine Sache. Dann erste Probe, dann zweite Probe. Wegen des Personalmangels haben sie sowieso eine relativ lange Lieferzeit von drei Monaten, Neukunden werden deshalb nur noch selten und erst nach sorgfältiger Begutachtung aufgenommen. Mir immerhin räumt er gewisse Chancen ein, trotz des "Klumperts", das ich gerade trage, nämlich deutsche Konfektion von einem Schneider, der dem Namen nach gerne den Chef heraushängen lässt. "Niedrige Qualität mit hohem Werbeaufwand!", schimpft Herr Niedersüß.

Aber mit meiner Frage nach dem Preis eines Knize-Maßanzugs streiche ich mich sowieso gleich selbst wieder aus der Stammkundendatei, denn nach dem dritten Mal Probieren muss der Anzug nicht nur passen, man legt dafür auch 7.000 bis 8.000 Euro auf den Tisch, ist der Anzug aus Kaschmir, entsprechend mehr. Aber so oder so ist eine erste Reinigung im Preis inbegriffen, nach dem ersten Mal Tragen und der anschließenden Dampfbehandlung, die den ersten gröberen Dreck aus dem Stoff bläst, sitzt und fällt der Anzug nämlich noch deutlich besser. Und mit den Jahren passen Körper und Anzug dann sowieso immer besser zusammen.

Jedoch soll man aber auch einen Knize-Anzug höchstens einmal pro Woche tragen, anschließend muss man ihn separat, außerhalb des Kastens, irgendwo aufhängen, denn die Feuchtigkeit müsse heraus, sonst fängt der Anzug an zu muachtln. Genau deswegen ist Herr Niedersüß auch für generellen Unterhemdenzwang, denn Unterhemd und Unterhose würden ja täglich gewechselt (wenn auch repräsentative Erhebung stets Gegenteiliges zu Tage fördert).

Höchstens einmal pro Woche sollte man einen Knize-Anzug tragen.
Foto: regine hendrich

Wenn sich "alles abzeichnet"

Hält man sich an die guten Ratschläge, dann trägt man seinen Knize-Anzug auch noch nach 30 oder mehr Jahren, sofern man nicht nahtsprengend zulegt. Niedersüß selbst besitzt sogar einen, der 47 Jahre alt ist. Er trug ihn unlängst während eines Fluges von Zürich nach Wien, und ein Sitznachbar (kein Chinese!) schaute ihn die ganze Zeit an, als wäre er in ihn verliebt. Beim Aussteigen wollte er dann aber doch nur wissen, was er da für einen wunderschönen Anzug trage, und da in der Sakkoinnentasche eines echten Knize immer eine entsprechende Etikette befestigt ist, konnte er dem Fragesteller sogar das Jahr der Fertigung nennen.

Wie aber sieht nun ein typischer Knize-Anzug aus? Jedenfalls ein Drei-Knopf-Einreiher mit einem immer relativ schmal geschnittenen Revers, wobei das im Laufe der Jahrzehnte natürlich mal einen Zentimer breiter sein kann, mal einen Zentimeter schmäler. Drei Ärmelknöpfe zieren das klassische Sakko und vier das Sportsakko. Die Hose gibt es hier traditionell mit Bundfalte und niemals so eng, dass kein Taschentuch mehr hineinpasst oder sich "alles abzeichnet", was der Herr in der Hose trägt. Zum Thema "Links- oder Rechtsträger?" fällt Herrn Niedersüß eine lustige Geschichte ein: Ein Veterinärmediziner beschrieb in einer Vorlesung einst den einen größere Hoden als "Arbeitshoden" und den etwas kleineren zweiten als "Reservehoden". Den männlichen Studierenden empfahl er zur Überprüfung des Gesagten den Griff in die eigene Hose, den weiblichen den Griff in die Hose des Institutsdieners. Woraufhin eine Studentin empört den Saal verließ und der Professor ihr nachrief: "Aber doch nicht gleich!"

Warum Bruno Kreisky doch nicht Kunde wurde

Als Mann müsse man jedenfalls schauen, sagt er, dass man im Laufe seines Lebens "eine gescheite Garderobe zusammenbringt", womit er meint: Ab 30 Knize-Anzügen ist man mit dabei, davon genügen zehn Sommeranzüge, denn "hier in Wien haben wir neun Monate Winter und drei Monate ist es kalt". Er kennt natürlich auch welche, die haben 200 Anzüge im Kasten oder im Ankleideflügel des Domizils hängen, aber fünf Stück pro Jahr, so wie früher manche, lässt sich heute kaum einer mehr schneidern.

Niedersüß kam als Praktikant zu Knize, 1957 machte er dort die Herrenmeisterprüfung und zwei Jahre später die Damenmeisterprüfung. Anschließend verbrachte er vier Jahre in der Werkstatt als "Zuschneider", und da fällt ihm ein, dass ja eigentlich er schuld daran war, dass der spätere Bundeskanzler Kreisky am Ende doch kein Knize-Kunde wurde. Es war 1960, und sie waren vier Zuschneider im Geschäft, er der unerfahrenste, als der damals noch junge "Alte" hereinkam.

Niedersüß nahm Maß, jedoch kolossal falsch, und der erfahrene Kollege, der eigentlich hätte merken müssen, dass diese Maße nicht zum Kreisky passen können, fertigte trotzdem einen Anzug für die erste Probe, die dann leider entsprechend ausfiel. Kreisky ließ fortan bei Humhal am Ring schneidern, und als der junge Humhal dann zusperrte, weil eine belgische Fluglinie als Mieter im Haus höhere Einnahmen versprach als ehrliche Arbeit, fragte ihn Herr Niedersüß, um welche seiner Kunden er sich denn bemühen solle, und der riet ihm: "Bloß nicht um den Kreisky! Der will immer handeln."

Gut gekleidet in London

1963 kaufte er dann das Geschäft C. M. Frank rechts vom Hotel Imperial am Ring, dort kostete zu der Zeit ein Maßanzug 2.600 Schilling, erinnert sich Niedersüß, und beim Knize 3.200. Nach 13 Jahren war er wieder zurück am Graben und kaufte Peter Knize das Geschäft ab, seine damalige Frau nannte ihn "größenwahnsinnig. Aber wann soll man denn etwas wagen im Leben, wenn nicht in jungen Jahren?", fragt er zurecht. Von C. M. Frank brachte Niedersüß auch die ganzen Hofschneiderdekrete mit, die er zuhauf im Geschäft hängen hat, von englischen Königen wie Edward VII, der zuvor auch mal Prince of Wales war. Der heutige Prince of Wales, Charles, hat ihn mal darauf angesprochen, dass er diese Dekrete eigentlich zurückgeben müsste, aber auch ein Prinz bekommt nicht alles, was er sich wünscht.

Wenn Kunden heute beklagen würden, dass alles den Bach runter ginge, dann müsse er denen "zum Teil zustimmen". Obwohl es schon noch genug Leute gäbe, "die gut angezogen sind und auch was vom Anziehen verstehen". Und in London, sagt er, "sieht man am Tag sowieso viele sehr, sehr gut angezogene Leute und vielleicht fünf wirklich außergewöhnlich gut gekleidete Herren". Wobei Reichtum nicht zwangsläufig hieße, dass man sich gut kleidet. Als Wahrspruch für gutes Anziehen gelte weiterhin der Loos-Satz: "Gut aussehen tut der, der nicht auffällt."

Mit den ganzen Slim-fit-Akrobaten in der heimischen Politik und mit deren stets glänzender Konfektionsware ("Plastik!") kann er folglich gar nichts anfangen. Und zu enge Jeans zum zu engen Sakko, wie das der Außenminister gerne vorführt? "Um Gottes willen!" Wirklich gut gekleidete Politiker fallen ihm auf die Schnelle sowieso keine ein, auch Schröder mit seinen Brionis nicht. Vranitzky? "Geht so." Kreisky immerhin wäre "schon okay" gewesen, aber halt nicht Knize. Und Trump wäre schlicht und einfach "grauslich".

Ungewisse Zukunft

Wenn Herr Niedersüß sonntags in seinem burgenländischen Refugium auf dem kleinen Traktor sitzt oder mit der Säge die unnützen Äste seiner vielen Kirschbäume abschneidet, dann trägt er auch mal Jeans. Er ist 81 Jahre alt und sieht aus wie 60, in seine Anzüge passt er heute so gut hinein wie vor 47 Jahren. Seine zweite, deutlich jüngere Gattin, eine Ärztin, die er am Opernball kennen und lieben gelernt hat, schenkte ihm vor sechseinhalb Jahren noch einen Sohn, nach der mittlerweile achtjährigen Tochter.

Die Geschäftsübergabe an einen Sohn aus erster Ehe steht dann irgendwann ins Haus. Aber da ist ja noch das leidige Problem, das alle Geschäftsleute in der Innenstadt haben: die Miete! Auch das Loos-Haus, in dem der Knize seit 1910 untergebracht ist, gehört mittlerweile einer Bank, und Banken wollen Geld sehen, in seinem Fall gibt es die Idee, von ihm 70.000 Euro pro Monat zu verlangen. Also stünden die Chancen, sagt er, dass der Graben irgendwann doch mal ohne Knize auskommen wird müssen, zurzeit eher bei 70:30 als bei 30:70.

Graben im Wandel

Überhaupt der Graben, und wie er sich wandelt! Braun & Co. ein paar Häuser weiter "war eine super Firma, verkaufte auch Damenkonfektion oder seidenüberzogene Steppdecken", erzählt er. Die hatten dann keinen Nachfolger und verkauften an den Schuhhändler Bally, der überhob sich, und es kam Palmers. Die fingen an, um zehn Prozent höher zu kalkulieren und gaben zehn Prozent Nachlass, aber das ging sich auch nicht aus. Also kam dann die schwedische Modekette, für die Geld keine Rolle spielt, die es aber seiner Meinung nach "in zehn Jahren auch nicht mehr geben wird, weil der Versandhandel gerade alles umkrempelt". Übrig bleiben würden die guten Handwerker.

Vielleicht braucht Herr Niedersüß ja bald einen guten Zimmerer? Beim Verabschieden habe ich nämlich kurz das Gefühl, durch den Holzboden, der hier mit weichem, grünem Teppich ausgelegt ist, zu brechen, aber dann schwingen die Balken doch wieder zurück. Gott sei Dank bin ich nicht so schwer wie der Sultan von Brunei, der, so Niedersüß, neulich aus einem Ringhotel heraus angerufen hätte, in dem Knize in einer Vitrine ein paar Sachen ausgestellt hat. Die gefielen ihm so gut, dass er gleich mit der Ware zu ihm ins Hotel kommen musste, allerdings flunkerte der Sultan bei der Angabe seiner Größe, 52 statt 58 war seine verzerrte Selbstwahrnehmung.

Dass die Leute "immer dicker" würden, das will Herr Niedersüß aber so pauschal nicht bestätigen. "Immer größer" hingegen vielleicht schon. (Manfred Rebhandl, Album, 18.2.2017)