Die Gewinnerin des Goldenen Bären, Ildiko Enyedi, und der Berlinale-Chef Dieter Kosslick.

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Bei der Preisverleihung am Samstagabend im Berlinale-Palast gab es zwei bemerkenswerte Momente. Der erste war die Auszeichnung von Georg Friedrich als bester Hauptdarsteller. Einmal auf der Bühne, klebte er zuerst seinen Kaugummi auf dem Silbernen Bären fest, anschließend sagte er Stephen Cranes Gedicht In the Desert auf, das von der Begegnung mit einer Bestie berichtet, die ihr bitteres Herz verspeist. Wie auch immer es Friedrich verstanden haben wollte, man dachte an die Kreaturen und Dämonen, denen sich ein Schauspieler stellt.

Auch in Thomas Arslans Helle Nächte geht es um eine solche Konfrontation. Georg Friedrich verkörpert den Vater eines pubertierenden Buben, dessen Kindheit er verpasst hat. Jetzt verbringen sie einen Urlaub in Norwegen, aber die Annäherung ist schwierig, die Fragen des Vaters nerven den Sohn, er läuft immer wieder davon. Arslan hat Friedrich eine Rolle überantwortet, in welcher der Schauspieler seine Qualitäten plastisch veranschaulichen kann. Die Zärtlichkeit, mit der er den Jungen für sich gewinnen will, wird immer wieder von der eigenen Brutalität zerstampft.

Der zweite Höhepunkt des Abends war die Auszeichnung von Aki Kaurismäki als bester Regisseur. Der finnische Lakoniker blieb ungerührt in seinem Stuhl sitzen, er hatte nämlich auf den Goldenen Bären gehofft, die Krönung seines Lebenswerks, damit er sich vom Filmemachen endlich verabschieden kann. Er machte sich dann nicht einmal die Mühe, auf die Bühne zu gehen, Festivaldirektor Dieter Kosslick eilte zu ihm, Kaurismäki spielte den Preis wie einen Ball an sein Team weiter. Viele hatten im zartbitteren The Other Side of Hope den logischen Gewinner gesehen.

Schlachten, träumen

Vielleicht schreckte die Jury davor zurück, nach Gianfranco Rosis Seefeuer 2016 heuer erneut einen Film rund um einen Flüchtling auszuzeichnen. Wahrscheinlich hat Paul Verhoeven und den anderen Juroren On Body and Soul von der Ungarin Ildikó Enyedi jedoch einfach besser gefallen.

Enyedis Film ist eine Parabel um zwei Liebende, die füreinander bestimmt sind. Beide arbeiten in einem Schlachtbetrieb, beide haben einen Makel – sie ist autistisch, er laboriert an einem lahmen Arm. Bei einer psychologischen Untersuchung des Personals stellt sich heraus, dass sie auch noch dieselben Träume bewohnen. Als Hirsche – ein Bulle und eine Kuh – streifen sie durch einen schneebedeckten Wald, suchen nach Essbarem, beschnuppern sich zärtlich.

Enyedi hat seit 1999 keinen Spielfilm mehr realisiert, was vielleicht erklärt, warum On Body and Soul wie aus der Zeit gefallen wirkt. Handwerklich durchaus gewandt, schließt der Film seine Figuren (und das Publikum mit ihnen) in eine seltsam abgeschlossene, wattierte Welt ein und operiert dort mit allzu starken Farben: da das automatisierte Schlachten der Rinder, dort die beiden waidwunden Seelen, die ihre Einsamkeit überwinden wollen.

Das überschreitet immer wieder die Grenze zum Kitsch, selbst wenn Enyedi das Geschehen humorvoll abfedert und sich dann im zweiten Teil an so etwas wie einer Romantic Comedy für den gehobenen Arthouse-Betrieb versucht.

Dennoch kann man mit den Juryentscheidungen insgesamt zufrieden sein, wurde doch aus einem unterdurchschnittlichen Wettbewerb noch das Beste herausgesiebt. Erfreulich etwa der Große Preis der Jury für Alain Gomis' Felicité, der vom Kampf einer Mutter in Kinshasa erzählt, die sich weigert, ein Opfer zu sein; schön auch die Auszeichnung der koreanischen Schauspielerin Kim Min-hee für On the Beach Alone at Night oder jene der Cutterin Dana Bunescu, die schon einer Reihe von wichtigen Arbeiten des neuen rumänischen Kinos eine Form verpasst hat und nun äußerst geschmeidig durch die Zeitsprünge von Calin Peter Netzers Ehedrama Ana, mon amour lenkt.

Verwunderlich bleibt dennoch, dass schon jetzt die Listen namhafter Anwärter für Cannes schier übergehen, während in Berlin dieses Jahr oft der B-Kader zum Einsatz zu kommen schien. Es wäre an der Zeit, den Einfluss von Weltvertrieben, Produktionsverhältnissen und manchmal, wenn es stimmt, gar jenen von Verleihern neu zu überdenken. Allen A-Festivals wäre geholfen, wenn wieder mehr kuratorisches Feingefühl in die Selektion einflösse, mehr Durchmischung – auch in Cannes, wo es Newcomer schwer haben.

Unmögliche Liebe

Ein neues und präsentes Gesicht dieser Berlinale war zum Beispiel die französische Schauspielerin Lolita Chammah, Tochter von Isabelle Huppert, die mit ihrem nonchalanten Spiel gleich in zwei Filmen im Forum zu sehen war. Drôles d'oiseaux (Strange Birds) von Elise Girard heißt der bessere der beiden, eine sehr pariserische Geschichte um eine junge Frau aus der Provinz, die bei einem misanthropischen Buchhändler (Jean Sorel) zu jobben beginnt und selbst versponnen genug ist, um dessen spröde Reize anziehend zu finden.

Daraus entwickelt sich eine der vergnüglichsten Komödien des Festivals, die tief drinnen schwermütig bleibt, weil sie eigentlich von einer unmöglichen Liebe erzählt. Dennoch verlässt diesen Film seine Unbekümmertheit nicht einmal dann, wenn Möwen aus unerklärlichen Gründen vom Himmel aufs Pflaster stürzen.

Mehr als eine Talentprobe lieferte auch der 25-jährige Salzburger Adrian Goiginger ab, der für seinen autobiografischen Spielfilm Die Beste aller Welten mit dem Kompass-Perspektive-Preis ausgezeichnet wurde. Goiginger erzählt von seiner aufreibenden Kindheit mit einer heroinabhängigen Mutter; wahrlich kein einfaches Thema, das er mit erstaunlich sicherer Hand in der Inszenierung von Gefühlslagen zu einer berührenden Studie bedrohter Intimität gestaltet. (Dominik Kamalzadeh aus Berlin, 20.2.2017)