Leben wir in revolutionären Zeiten? Philipp Blom, Ágnes Heller, Alexandra Föderl-Schmid, Karel Schwarzenberg, und Hans Christian Ströbele (v. li.) spürten im fast ausverkauften Wiener Burgtheater der Frage nach, ob wir tatsächlich in revolutionären Zeiten leben.

Foto: Standard / Robert Newald

Wien – Vor einem Zurück in die Vergangenheit hat Karl Schwarzenberg keine Angst, und das trotz seiner Skepsis gegenüber inhaltsleer gewordener Politik mit weitgehend austauschbarem Personal sowie jenen Populisten, die genau daraus ihr machtpolitisches Süppchen kochen. "Man geht nie in die Geschichte zurück", sagte der ehemalige tschechische Außenminister am Sonntag im Wiener Burgtheater bei einer Debatte aus dem Zyklus Europa im Diskurs, moderiert von STANDARD-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid. Und es wäre nicht Schwarzenberg, würde er seine mäßig optimistische Zukunftsaussicht nicht mit der ihm eigenen Ironie abrunden: "Wir werden keinen neuen Faschismus oder Nationalsozialismus haben, sondern wir werden unseren eigenen Blödsinn erfinden."

Teil 1
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Leben wir in revolutionären Zeiten? Das war die Fragestellung der Diskussion, die mitveranstaltet wurde vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) und von der Erste Stiftung. Die Grundannahme: Viele Menschen hatten bis vor kurzem das Gefühl, dass die mittel- und osteuropäischen Freiheitsrevolutionen des Jahres 1989 ohne Gegenrevolution auskommen würden. Mehr als ein Vierteljahrhundert später jedoch zeigt sich, dass mit dem Brexit, mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und mit zunehmendem Isolationismus selbst innerhalb der Europäischen Union die Globalisierung von neuem Nationalismus abgelöst wird.

Keine tiefen Wurzeln

Schwarzenberg denkt nach über den Begriff der Revolution, und er erinnert sich an die Diktion der kommunistischen Machthaber in der ehemaligen Tschechoslowakei: Revolution, die kam immer von links. Alles andere war "Konterrevolution". Dieser Terminologie misstraut er. Dass wir aber erneut auf tiefgreifende Veränderungen zusteuern, davon ist Schwarzenberg fest überzeugt.

Wer sich in dieser Situation die Frage stellt, ob die liberale Demokratie ernsthaft in Gefahr sei, der müsse sich auch fragen, wie stark selbige in Europa überhaupt verwurzelt ist, meint die ungarische Philosophin Ágnes Heller, der im Anschluss an die Debatte der von der Wiener Ärztekammer vergebene Paul-Watzlawick-Preis für ihr Lebenswerk überreicht wurde.

"Krise einer sehr neuen politischen Einrichtung"

Ihr Fazit: Vor dem Zweiten Weltkrieg war die liberale Demokratie eine Ausnahmeerscheinung, und auch in der Nachkriegszeit war sie – selbst in Westeuropa – längst keine Selbstverständlichkeit: "Was passierte in Spanien, in Portugal, in Griechenland?", fragt Heller. "Das waren überhaupt keine Demokratien, nicht nur keine liberalen. Wenn wir also jetzt über eine Krise sprechen, dann sprechen wir über die Krise einer sehr neuen politischen Einrichtung." Nun würden wieder starke Männer – "oder starke Frauen, auch das gibt es heutzutage" – auftauchen und die Leitung des Diskurses übernehmen.

Teil 2
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Vielleicht, so Heller, hätte es auch etwas Positives, wenn diese Leute die liberale Demokratie infrage stellten: "Junge Menschen können auf diese Art sehen: Liberale Demokratie ist nicht selbstverständlich. Wir haben etwas zu verlieren." Dass dieser Ansatz riskant ist, darüber macht sich auch Heller keine Illusionen. "Die Welt war immer ein gefährlicher Platz, und sie ist es auch heute."

Historische Analogien

Dass Demokratie in der Geschichte der Menschheit nicht die Regel, sondern die Ausnahme darstellt, das bekräftigte der in Wien lebende deutsche Historiker Philipp Blom. "Das, was wir als den Naturzustand eines wohlhabenden und friedlichen Landes ansehen, kann sehr schnell erodieren und verschwinden", so Blom. Oft werde er gefragt, ob wir heute wieder in einer Art Weimarer Republik leben – in Anspielung auf die instabile deutsche Demokratie der Zwischenkriegszeit, die dem nationalsozialistischen Mörderregime weichen musste.

Bloms Antwort ist zunächst ein klares Nein: "Wir sind zu reich, wir haben zu stabile Institutionen und eine zu aktive Zivilgesellschaft." Aber, schränkt Blom ein: "Noch eine Krise wie 2008, und ich glaube, ganz Europa und die USA könnten eine große Weimarer Republik sein, in der eigentlich alles möglich wird." Bitterer Nachsatz: "Da sich an den Finanzmärkten strukturell nichts geändert hat, ist das eher eine Frage der Zeit."

Neuartige Alarmzeichen

Wer Ausschau nach Alarmzeichen hält, dürfe sich jedoch nicht von der Geschichte verblenden lassen, so Blom: "Die nächste Diktatur wird nicht mit Fackelzügen, Stechschritt und Uniformen kommen." Das sei die Ikonografie der 1930er-Jahre. "Ein besser geeignetes Alarmzeichen ist das, was wir jetzt erleben: nämlich eine langsame Normalisierung von Dingen, die vorher unmöglich gewesen wären."

Für Blom das schockierendste Beispiel: Nachdem das britische Höchstgericht entschieden hatte, dass das Parlament in der Brexit-Debatte eine Stimme haben muss, hätte die Daily Mail auf der Titelseite Fotos und Namen der Höchstrichter veröffentlicht, mit der Überschrift: "Feinde des Volkes". "Wenn es einmal normal wird, dass man Menschen öffentlich so bezeichnet, dann ist der nächste Schritt, dass man sich überlegt, was man mit Volksfeinden tut", sagt Blom.

Ins Straucheln geratenen

Was den wirtschaftlichen Hintergrund einer ins Straucheln geratenen liberalen Demokratie betrifft, so schlägt der deutsche Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele, grünes Urgestein aus Berlin-Kreuzberg mit rotem Schal als Markenzeichen, in eine ähnliche Kerbe wie Blom – und geht noch einen Schritt weiter: "Die entscheidende Frage ist: Wird der Reichtum in der Gesellschaft einigermaßen gerecht verteilt? Dass das nicht der Fall ist, sieht man weltweit", so Ströbele.

Dies sei der Hauptgrund für revolutionäre Stimmungen. Und es sei der Hauptgrund für die globalen Krisen der Gegenwart, etwa im Zusammenhang mit der Migration, die die Länder Europas überfordern würde. Dahinter stünde nicht nur die Gewalt im Nahen Osten, sondern auch die Tatsache, dass Afrika am Reichtum der Welt kaum beteiligt sei. Dass es Sehnsucht nach Veränderung gebe, könne man auch in den USA und in Europa spüren, sagt Ströbele. Nationalismus aber könne nicht die Lösung sein, Abschottung werde nicht funktionieren: "Genau das lehren uns die Flüchtlinge." (Gerald Schubert, 19.2.2017)