Falls der Internationale Gerichtshof in Den Haag das Verfahren gegen Serbien wegen dessen Verantwortung für den Völkermord in Srebrenica im Jahr 1995 wieder aufnehmen sollte, dann werden sich einige politische Akteure auf dem Balkan darüber freuen. Andere werden schäumen, aber kaum jemand wird daran interessiert sein, dass am Ende die Wahrheit ans Licht kommt. Gerichtsurteile, die die Kriege in den 1990ern betreffen, werden oftmals nur als Möglichkeit gesehen, Punkte gegen die Vertreter anderer Volksgruppen oder anderer Staaten zu sammeln.

Für viele gibt es Tatsachen bloß als Frage der Perspektive und der Zugehörigkeit. Deshalb verweigern viele politische Akteure auch, sich überhaupt mit Fakten und dem, was sie bedeuten, auseinanderzusetzen.

Während man sich in den USA und in Westeuropa Sorgen macht, dass in der Politik Emotionen zunehmend über Sachverhalte gestellt werden, sind die Gesellschaften in Südosteuropa noch niemals im "faktischen Zeitalter" angekommen. Manipulation, Lügen und Drohungen sind hier ganz normal. Wirklichkeit gilt als verhandelbar und wird als Manövriermasse für Beziehungen verstanden. Deshalb hat das Vorhaben der bosniakischen Eliten, das Genozidurteil nochmals überprüfen zu lassen, vor allem dazu geführt, dass nun über das Verhältnis zwischen Bosnien-Herzegowina und Serbien und den sogenannten Volksgruppen philosophiert wird, nicht aber über valides Wissen.

Keiner traut dem anderen zu, dass er jenseits der "ethnischen" Zugehörigkeit als rationales Wesen agieren kann. Völkische Gruppenidentität ist als Basis für Wahrheitsfindung natürlich ungeeignet. Der krude Zugang zu Fakten hat aber auch etwas mit der Geschichte der Region zu tun. Prägend war für den Balkan lange Zeit das "Modell Byzanz" – also eine Übereinstimmung zwischen weltlicher und geistlicher Macht im Gegensatz zur westeuropäischen Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Mächten, die zur Aufklärung führte.

Autoritäten wurden weniger infrage gestellt. Das römische Recht und ein rationaler Wahrheitsbegriff wurden später aufgenommen, das Individuum gegenüber der Gemeinschaft weniger aufgewertet. Auch deshalb sind die jungen Demokratien auf dem Balkan noch immer anfälliger für autoritäre Tendenzen. Das Modell der liberalen Demokratie wird als Zielvorstellung bereits seit zehn Jahren attackiert – seit damals nimmt etwa die Medienfreiheit wieder ab.

Selbst die US-Botschafter, die seit Jahren vor Ort für Rechtsstaat und Demokratisierung kämpfen, kommen unter der Trump-Regierung nun unter Beschuss. Die transformatorische Kraft der EU ist ohnehin kaum noch zu spüren. Da hilft es auch nichts, wenn EU-Politiker – wie zuletzt Kanzler Kern in Belgrad – so tun, als ginge die Erweiterung wirklich weiter.

Viele Bürger Südosteuropas wollen nichts wie weg – Richtung Deutschland. Sie sehen keine ökonomische Perspektive und merken, dass vor Ort die säkularen zunehmend von den autoritären Kräften eingeschränkt werden. Selbst aus Kroatien sind Medienberichten zufolge seit dem EU-Beitritt 2013 bereits 200.000 Personen ausgewandert. Angesichts des zunehmenden Antiliberalismus scheint der vormoderne "Balkan" zurzeit eher auf Europa abzufärben, als umgekehrt die Reformbemühungen der EU und der USA in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der Region verankert werden. (Adelheid Wölfl, 20.2.2017)