Türkische Polizisten gehen im März mit Wasserwerfern und Tränengas vor der Redaktion der Tageszeitung "Zaman" gegen Protestierende vor. Die kritische Zeitung wurde von der Regierung geschlossen. Die Türkei ist eines der Problemländer im aktuellen Bericht von Amnesty International.

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Istanbul/Wien – Auf den Schildern, die ältere Frauen mit Kopftüchern hochhalten, steht: "Wir wollen die Todesstrafe". Die Anwälte, die als Pflichtverteidiger benannt wurden, weigern sich, ihre Aufgabe zu übernehmen. Und im Grunde ist der Prozess gegen die 44 angeklagten Soldaten, der am Montag in der türkischen Stadt Muğla begann, schon gelaufen. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie Staatschef Tayyip Erdoğan entführen oder gar umbringen wollten. Seit dem vereitelten Putsch des Militärs im Sommer 2016 und dem sich abzeichnenden Gegenputsch durch den mit Notstandsdekreten regierenden Präsidenten ist die Türkei eines der größten Problemländer der Menschenrechtsorganisation Amnesty International geworden.

Folterung gefangener mutmaßlicher Putschsoldaten, Massenflucht kurdischer Zivilisten vor der Armee im Südosten des Landes und die mittlerweile größte Haftanstalt der Welt für Journalisten: Der Nato-Verbündete und EU-Beitrittskandidat Türkei ist innerhalb nur eines Jahres noch tiefer gerutscht. Die türkische Regierung weist gleichwohl alle Vorwürfe massiver Menschenrechtsverletzungen kategorisch zurück. Dokumentierte Berichte über Folterungen von Gefangenen seien erfunden; das Vorgehen der Armee in den mehrheitlich kurdischen Städten "legal, notwendig und angemessen"; die inhaftierten Journalisten alle dringend verdächtigt, Terrorgruppen zu unterstützen.

Österreich-Generalsekretär: "Brandgefährliche Entwicklung"

Erdoğans Umgang mit politischen Gegnern und Randgruppen steht im jüngsten Jahresbericht von Amnesty International als Beispiel dafür, wie weltweit Menschenrechte zurückgedrängt werden. Der Bericht, der am Dienstag veröffentlicht wurde, analysiert die menschenrechtliche Situation in 159 Staaten.

"2016 setzten Staaten die Grundlage unserer friedlichen Gesellschaft aufs Spiel", so Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International Österreich bei der Präsentation in Wien. "Weltweit kam es 2016 zu einem Paradigmenwechsel", fügt Generalsekretär Heinz Patzelt hinzu: "Wenn Menschenrechte diskutiert oder gar neu definiert werden, dann ist das eine brandgefährliche Entwicklung."

Laut Aufzeichnungen der Menschenrechtsorganisation wurden etwa im vergangenen Jahr in 22 Ländern Menschen ermordet, die sich friedlich für ihre Rechte eingesetzt haben. Als tragisches Beispiel wird der Mord an der indigenen Führerin Berta Cáceres im März in Honduras genannt. Sie hatte sich vor allem für Rechte ihrer Volksgruppe, die Lenca, und den Schutz deren Natur eingesetzt. Sie stand trotz wiederholter Drohungen gegen sie nicht unter Polizeischutz. Honduras wird in dem Bericht neben Guatemala als das Land gelistet, in dem 2016 die Gefahr für Umweltschützer am größten war.

Gewalt gegen Minderheiten

Doch nicht nur in Südamerika, sondern in allen Regionen der Welt dokumentierte Amnesty Fälle, in denen versucht wurde, kritische Stimmen verstummen zu lassen. So auch in Afrika, wo unter anderem in Äthiopien im Oktober der Notstand ausgerufen wurde und den Sicherheitsbehörden exzessive Macht erteilte.

Der Auslöser waren Proteste von Angehörigen der Oromo-Ethnie, die zwar 35 Prozent der äthiopischen Bevölkerung stellt, aber systematisch diskriminiert wird. Bei einem Protest von zwei Millionen Menschen im Oktober schossen Sicherheitsbeamte in die Menge und töteten laut Menschenrechtsaktivisten hunderte Demonstranten.

In Asien prangert Amnesty die vermehrten Angriffe auf Protestierende in China an. So ist laut Bericht die Zahl der erzwungenen Geständnisse, die im Fernsehen übertragen werden, stark angestiegen. In Südkorea wurde die Versammlungsfreiheit eingeschränkt und in Malaysia der Parlamentarier Rafizi Ramli zu 18 Monaten Haft verurteilt, weil er Dokumente besessen und an Medien weitergegeben hatte, die Korruption aufdeckten.

In Europa werden nicht nur die strengen Gesetze der ehemaligen Staaten der Sowjetunion kritisiert, sondern allen voran Großbritannien. Mit dem Investigatory Powers Act, der im November eingeführt wurde, hätte sich die Regierung die "vielleicht umfangreichste und gezielteste Überwachungsmacht" verliehen. Dadurch werden Internet- und Telefonanbieter verpflichtet, Daten für zwölf Monate zu speichern und den Behörden uneingeschränkten Zugriff darauf zu geben. (Markus Bernath, Bianca Blei, 22.2.2017)