Die Arbeiten vor Ort werden in der Facility for Archaeological Research at Helwan (Farah) durchgeführt.

Foto: Herbert Böhm

Das Gebäude umfasst Depot- und Arbeitsbereiche.

Foto: Herbert Böhm

Auf dem Dach des Gebäudes wird die Keramik analysiert. Der größte Teil des Gräberfelds wurde verbaut, lediglich ein kleiner Bereich ist durch eine Mauer geschützt.

Foto: Herbert Böhm

Grubengrab eines Jugendlichen: In der rechten Hand befindet sich ein Fragment einer Brotbackform aus Keramik – möglicherweise ein Symbol für die kontinuierliche Versorgung im Jenseits.

Foto: E.C. Köhler – Helwan Project

Blick in ein unterirdisches Kammergrab während der Ausgrabung. Das Grab wurde schon in der Antike mehrfach beraubt, doch konnten immer noch zahlreiche Stein- und Keramikgefäße dokumentiert werden.

Foto: E.C. Köhler – Helwan Project

Eine dekorierte Grabplatte der Zweiten Dynastie aus Helwan: Die Grabherrin auf einem Stuhl; vor ihr sind zahlreiche Opfergaben wie Brot, Krüge mit Getränken sowie die Köpfe von Geflügel aufgestellt.

Foto: E.C. Köhler – Helwan Project

Eine typische Tierknochenprobe: Nicht jedes Fragment kann eindeutig bestimmt werden.

Foto: Herbert Böhm

Fußskelette von Rindern können häufig in den Gräbern festgestellt werden.

Foto: Herbert Böhm

Vogelbeobachtung auf der Corniche, der Uferstraße, die entlang des Nils verläuft, inmitten des Kairoer Morgenverkehrs, das gestaltet sich auch als Beifahrer schwierig. Ein Tuk-Tuk von rechts, ein Eselskarren von links, vor uns ein Bus. Sind diese endlich umkurvt, lässt unser Fahrer seinen Bleifuß bis zum nächsten Hindernis wirken, wie auch immer dieses aussehen mag.

Dennoch: Auf meiner morgendlichen Bestimmungsliste stehen zwei Palmentauben, eine Schar Spatzen von etwa 20 Individuen, zwei Nebelkrähen und ein aufgeregter Graubülbül. Aber welche Reiher staksen auf dem kleinen Feld umher, das sich zwischen Nilufer und Straße befindet – Silberreiher, Kuhreiher oder Seidenreiher? Sind die Beine gelb oder der Schnabel schwarz? Ärgerlich, etwas nicht bestimmen zu können, zumal ich doch deswegen in Ägypten bin – allerdings nicht für das Bestimmen von lebenden Tieren (das ist Privatvergnügen), sondern für das Bestimmen von Skelettresten längst verstorbener Tiere.

Auf nach Helwan

Zusammen mit Kollegen des Instituts für Ägyptologie der Universität Wien befinde ich mich auf dem Weg nach Helwan, direkt südlich von Kairo gelegen. Dort befindet sich der letzte Rest eines Gräberfelds der ägyptischen Frühzeit, das eine Fläche von etwa 100 Hektar umfasste. Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden auf dem Areal mehr als 10.000 Bestattungen ausgegraben, jedoch blieben Publikationsstand und somit auch der Erkenntnisgewinn dürftig.

Dies möchte ein Forschungsprojekt unter der Leitung von E. Christiana Köhler ändern, in dessen Rahmen seit 1997 weitere 218 Gräber archäologisch untersucht werden konnten. Das Projekt wird in Kooperation zwischen dem ägyptischen Antikenministerium, der Macquarie University in Sydney und der Universität Wien durchgeführt und seit 2015 vom FWF finanziert.

Hauptfriedhof der Unter- und Mittelschicht

Helwan ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil es sich um den Hauptfriedhof der sozialen Unter- und Mittelschicht von Memphis, der Hauptstadt des Alten Reichs, handeln dürfte. Die Hauptbelegungsdauer erstreckte sich von prädynastischer Zeit bis zur Vierten Dynastie, also etwa von 3300 bis 2700 v. Chr. Die Lage der Stadt Memphis selbst ist unbekannt. Teile davon befinden sich möglicherweise unter dem modernen Kairo, wurden vom Nil abgetragen oder liegen unter einem viele Meter starken Sedimentkörper, der sich im Lauf der Jahrtausende abgelagert hat, verborgen. Somit stellen die Gräber von Helwan auch die einzige Möglichkeit dar, Hinweise auf die breite Bevölkerungsmehrheit dieser Stadt, ihre Lebensweise und materielle Kultur zu erlangen, auch wenn Grabausstattungen nicht unbedingt das alltägliche Leben widerspiegeln.

Die Ergebnisse der modernen Forschungen erweitern und relativieren das Bild vom altägytischen Totenbrauchtum, das vorwiegend durch Gräber der Eliten geprägt ist, die lange im Zentrum des archäologischen Interesses standen. Obwohl es auch in diesem Gräberfeld kunstvoll gefertigte Beigaben aus Elfenbein, Halbedelsteinen oder Kupfer gibt, stellen doch weit unscheinbarere Funde wie Gebrauchskeramik oder Steingefäße die wahren "Schätze" dar. Diese Fundkategorien sind vor allem für das Erstellen relativer Chronologien von hoher Bedeutung, das heißt, sie dienen zur Klärung der zeitlichen Abfolge bestimmter Gefäßformen, die kulturhistorisch eingeordnet und parallelisiert werden können.

Keine geschlechtsbedingten Unterschiede

Weiters lassen sich Erkenntnisse zur Entwicklung der Grabarchitektur gewinnen. In Helwan kann diesbezüglich eine hohe Variabilität festgestellt werden, die von einfachen Grubengräbern bis zu aufwendigeren Schachtgräbern mit mehreren unterirdischen Kammern und oberirdischen Gebäudestrukturen in Form von Mastabas reicht. Im Unterschied zu den Gräbern der sozialen Oberschicht nachfolgender Zeitabschnitte lassen sich aufgrund der anthropologischen Untersuchungen, die von Chris Marshall vom Institute for Bioarchaeology in London durchgeführt werden, keine geschlechtsbedingten Unterschiede in der Grabkonstruktion feststellen. Während also die männlichen Angehörigen der Elite ab dem Alten Reich (also ab der Dritten Dynastie) in der Regel aufwendigere Grabstätten erhielten als Frauen, zeichnen sich in Helwan egalitärere Verhältnisse ab.

Steinerne Reliefplatten, die Angaben zur bestatteten Person enthalten und vermutlich an den Fassaden der Grabgebäude angebracht waren, können als besondere Fundkategorie gelten. Sie stellen eine Vorform der späteren "Scheintüren" dar, die als Schnittstelle der Interaktion der Hinterbliebenen mit den Verstorbenen gelten können.

Zoologische Auswertungen vor Ort

Neben solchen Artefakten verfügen natürlich auch bioarchäologische Funde in Form tausender archäobotanischer Proben, Tierknochen und nicht zuletzt des menschlichen Skelettmaterials selbst über ein hohes Informationspotenzial für die Rekonstruktion der Lebens-, Wirtschafts- und Umweltbedingungen der damaligen Bevölkerung. Mein Beitrag dazu besteht in der Analyse der zoologischen Überreste, und da archäologisches Fundmaterial nicht außer Landes gebracht werden darf, muss ich die Datenaufnahme vor Ort vornehmen.

Wie auch bei der Unterscheidung von weißgefiederten Reiherarten kommt es bei der Bestimmung von Tierknochen schlussendlich auf die Erkennbarkeit von Merkmalskombinationen an. Entsprechend ihrer jeweiligen Lebensweise zeigen Tierarten unterschiedliche Adaptionen ihrer Knochen und Zähne. Diese unterschiedlichen anatomischen Ausformungen und deren Details machen sich Archäozoologen zunutze, um im besten Fall Tierart, Skelettelement und deren jeweilige Körperseite, Sterbealter und das Geschlecht zu ermitteln. Zudem können metrische Daten erhoben und weitere Beobachtungen zu pathologischen Veränderungen oder Modifikationen beziehungsweise Manipulationen – Schnittspuren, Verwitterungsspuren et cetera – an den Knochenresten dokumentiert werden. Solche Daten stellen die Basis für alle weiteren Auswertungsschritte dar.

3D-Puzzle im Kopf

Erschwerend wirkt sich jedoch aus, dass man meist mit stark fragmentiertem Knochenmaterial konfrontiert wird. Der Bestimmungsvorgang setzt somit nicht nur eine relativ genaue Kenntnis der Knochenmorphologie voraus, sondern auch eine hohe räumliche Vorstellungsgabe, die es ermöglicht, das jeweilige Fragment richtig zu positionieren – ein permanentes 3D-Puzzle im Kopf. Zudem kennt kein Archäozoologe die detaillierte Anatomie aller Tierarten weltweit auswendig – dies ist schier unmöglich. Deshalb spezialisieren sich manche Kollegen auch auf bestimmte Tiergruppen – Fische, Vögel et cetera – oder Weltregionen.

Das Bestimmen von Knochen- und Zahnresten ist keine mathematisch exakte Methode, sondern ein Schätzverfahren. Viele Faktoren beeinflussen das Ergebnis: der Erfahrungshintergrund des Bearbeiters, der Erhaltungszustand des Fundmaterials, Zugang zu einer Referenzsammlung und nicht zuletzt auch die jeweilige Tagesverfassung, um nur einige zu nennen. Trotzdem produzieren Archäozoologen weitgehend vergleichbare und nachvollziehbare Ergebnisse.

Im Zweifel "Hühnervogel"

Natürlich können nicht alle Knochenreste eindeutig einer Tierart oder einem Skelettelement zugewiesen werden. Verbleiben Zweifel an einer konkreten Zuordnung, wird der Fund nicht als "bestimmt" gewertet, oder man muss auf eine übergeordnete taxonomische Ebene verweisen, zum Beispiel "Hühnervogel" oder lediglich "unbestimmter Vogelknochen".

Dies ist auch in Helwan oftmals der Fall. Was sich aber aufgrund der bestimmbaren Stücke bereits während der Datenaufnahme abzeichnet, ist, dass den Verstorbenen hauptsächlich Körperteile von Rindern, Schafen und Enten beigegeben wurden. Schweine, Nilfische und Schildkröten stellen hingegen relativ seltene Beobachtungen dar. Bildliche Darstellungen aus reich ausgestatteten Gräbern geben einen lebendigen Eindruck von großzügigen Fleischbeigaben, mit denen die Verstorbenen versorgt wurden. Die Funde, die wir in den Gräbern der einfachen Bevölkerung nachweisen können, bestätigen zwar die abgebildeten Tierarten weitgehend, jedoch lassen sich Unterschiede in den repräsentierten Körperpartien nachweisen. So verblieben fleischreiche Körperteile vermutlich eher bei den Hinterbliebenen, während die Toten oftmals mit kulinarisch weniger attraktiven Stücken vorliebnehmen mussten.

Dieses Muster deckt sich gut mit Beobachtungen an anderen Fundkategorien wie etwa den botanischen Resten oder den Gefäßen, die vielfach ebenso eine mehr symbolische als funktionale Charakteristik aufweisen. Möglicherweise spiegelt sich darin ein durchaus sympathischer Pragmatismus wider, der das Diesseits doch deutlich über das Jenseits stellt. (Herbert Böhm, 2.3.2017)