"Sympathie darf durchaus auch eine Rolle spielen – wenn zuvor in einem professionellen Auswahlverfahren die tatsächliche Eignung der Kandidaten geklärt wurde", sagt Peter Kanning.

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Uwe Peter Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Er ist Autor und Herausgeber mehrerer Fachbücher und psychologischer Testverfahren.

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STANDARD: Professor Kanning, Ihrer Erfahrung nach ist das Bauchgefühl nach wie vor der wichtigste Ratgeber bei der Personalauswahl. Was ist schlecht daran?

Uwe Peter Kanning: Personalauswahl nach dem Bauchgefühl führt zu nachweisbar schlechteren Auswahlentscheidungen. Wer nach dem Baugefühl auswählt, nimmt Bewerber in systematischer Weise verzerrt war – und dies, ohne es selbst zu merken: Gut aussehende Bewerber werden als intelligenter und sozial kompetenter erlebt als weniger gut aussehende. Große, kräftige Personen werden als führungsstärker wahrgenommen, wodurch nicht zuletzt Frauen mit geringerer Wahrscheinlichkeit in Führungspositionen kommen. Übergewichtige Bewerber erscheinen ebenso weniger geeignet wie dialektsprechende Bewerber oder Bewerber mit ausländischem Namen. Der berühmte erste Eindruck verstellt den Blick auf die nachweisbare Qualifikation.

STANDARD: Aber bestimmen spontane Sympathie oder Antipathie nicht maßgeblich das Zwischenmenschliche? Sollte das bei der Auswahl wirklich keine Rolle spielen?

Kanning: Sympathie darf durchaus auch eine Rolle spielen – wenn zuvor in einem professionellen Auswahlverfahren die tatsächliche Eignung der Kandidaten geklärt wurde. Sind am Ende zwei Bewerber gleich gut geeignet, spricht nichts dagegen, den sympathischeren zu nehmen. Dies gilt natürlich nur, wenn der Auswählende später auch mit dem Bewerber persönlich zusammenarbeitet. Im Übrigen täuscht Sympathie oft. Manche Bewerber sind uns spontan sympathisch, weil sie vielleicht ansprechend aussehen oder dem Interviewer nach dem Munde reden. Später im Berufsalltag legt sich dann die spontane Sympathie wieder. Bei anderen Personen ist es umgekehrt, sie werden uns erst sympathisch, wenn wir sie länger und näher kennengelernt haben.

STANDARD: Aus diesen Überlegungen heraus: Wozu raten Sie den Unternehmen denn nun stattdessen in Sachen "Personalauswahl"?

Kanning: Zu dem Vorgehen, das die Forschung seit Jahrzehnten als das Vorteilhaftere und mehr Nutzen Stiftende erkannt hat: Auswahlentscheidungen werden besser, wenn sehr systematisch vorgegangen wird und alle Bewerber nach denselben Kriterien bewertet werden. Deshalb ist es wichtig, vor der Sichtung der Bewerbungsunterlagen klare Mindestanforderungen zu definieren. Im Interview bedeutet ein strukturiertes Vorgehen beispielsweise, einen Leitfaden zu haben, in dem die Fragen stehen, die allen Bewerbern in gleicher Weise gestellt werden. Diese Fragen haben nichts mit der zirkulierenden Ratgeberliteratur gemein, sondern beziehen sich explizit auf die spezifischen Anforderungen der Stelle. Zudem braucht es ein Raster zur Bewertung jeder einzelnen Antwort. Wer Bewerbern im Interview unterschiedliche Fragen stellt, kann sie am Ende nicht sinnvoll untereinander vergleichen.

STANDARD: Sind das nun Verfahren und Vorgehensweisen, die maßgeblich auf die Personalrekrutierung der großen Unternehmen zugeschnitten sind, oder sind sie auch für KMUs praktikabel?

Kanning: Natürlich gibt es Auswahlmethoden, die für mittlere und kleinere Unternehmen schwer zu realisieren sind. Etwa ein umfangreiches Assessment-Center. Grundlegende Qualitätskriterien aber lassen sich auch in KMUs realisieren: Eine klare Definition der stellenbezogenen Anforderung; die Festlegung grundlegender Kriterien zur Sichtung der Bewerbungsunterlagen; die Vorbereitung eines Interviews in Form einen Leitfadens; die Durchführung des Interviews durch zwei Personen. Ratsam für KMUs ist es auch, zu überlegen, welche gewohnten, überkommenen Vorgehensweisen der Personalauswahlpraxis sich als in die Irre führend erwiesen haben. So sagen beispielsweise Lücken im Lebenslauf, der eine oder andere Tippfehler oder Hobbys aus der wissenschaftlichen Erfahrung heraus so gut wie nichts über einen Menschen aus.

STANDARD: Wie stellt sich die Kostenseite einer professionellen Personalauswahl dar?

Kanning: Professionelle Personalauswahl verlangt zwangsläufig einen höheren Kostenaufwand, allein schon deshalb, weil mehr Zeit und Mühe in Vorbereitung und Durchführung investiert werden müssen. Dennoch ist die kurz skizzierte, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Personalauswahl deutlich kostengünstiger als die Personalauswahl aus dem Bauch heraus, führt sie doch viel sicherer dazu, die am besten geeigneten respektive die leistungsstärkeren Bewerber tatsächlich aus dem Bewerberpool herauszufischen. Forschungserkenntnisse belegen: Bei gleicher fachlicher Qualifikation können die Leistungsunterschiede zwischen Bewerbern durchaus 30 Prozent und mehr betragen. Gelingt es, mit einem aufwendigeren Auswahlverfahren nur einen Bewerber zu identifizieren, der zehn Prozent leistungsstärker als seine Mitbewerber ist, haben sich die höheren Kosten meist schon nach einem Jahr amortisiert. Entscheidend für die Kostenbetrachtung ist die Tatsache: Jedes Auswahlverfahren stellt eine Investitionsentscheidung dar. Wer einen Mitarbeiter einstellt, der dem Arbeitgeber im Jahr 50.000 Euro kostet und zehn Jahre im Unternehmen verbleibt, der trifft im Rahmen der Personalauswahl eine Investitionsentscheidung über 500.000 Euro. Da empfiehlt es sich schon, die Auswahlentscheidung auf ein solides Fundament zu stellen.

STANDARD: Auf welchen Grundlagen fußt die wissenschaftlich abgesicherte Personaldiagnostik?

Kanning: Seit über 50 Jahren wird zur Personalauswahl geforscht. Pro Jahr erscheinen mehr als 700 wissenschaftliche Publikationen. In der Forschung wird unter anderem beispielsweise die Qualität einer Auswahlentscheidung über die Zeit hinweg berechnet. Es geht darum, herauszufinden, wie gut sich mit unterschiedlichen Auswahlmethoden der berufliche Erfolg von Bewerbern prognostizieren lässt. Beispielsweise hat sich herausgestellt, dass sich über das klassische unstrukturierte Vorstellungsgespräch die berufliche Leistung nur zu etwa vier Prozent vorhersagen lässt. Bei hoch strukturierten Interviews ist die Aussagekraft bis zu achtmal höher. Die Prognosegüte von wissenschaftlich entwickelten Leistungstests liegt im Durchschnitt bei 25 Prozent und steigt bei wichtigen Führungspositionen sogar noch an.

STANDARD: Sie haben 20 Jahre Erfahrung auf diesem Gebiet und viel dazu publiziert. Warum, meinen Sie, verzichten viele Unternehmen nach wie vor auf Vorgehensweisen, die ihnen deutlich mehr Sicherheit bei der Personalauswahl bieten?

Kanning: Kern des Problems ist, dass die meisten Verantwortlichen schlicht und einfach zu wenig oder gar nichts über die einschlägigen Forschungsergebnisse wissen. Und das nicht zuletzt auch deshalb, weil sie zum einen im BWL-Studium darüber kaum etwas gehört haben, zum anderen aber auch, weil Praxiszeitschriften meiner Erfahrung nach viel zu selten über diese Forschungsergebnisse berichten. Ein nicht zu unterschätzender Aspekt der Problematik ist aber auch: Professionelle Diagnostik wird von erfahrenen Leuten oft auch als Bedrohung angesehen, weil sie die selbsterlebte Kompetenz der Entscheidungsträger infrage stellt und ihnen ein Stück weit die Macht nimmt, wie ein Türsteher über Wohl und Wehe der Kandidaten zu entscheiden. Ein weiterer Grund liegt in der fehlenden beziehungsweise ungenügenden Evaluation, also Überprüfung der Auswahlentscheidungen. So wird jede Stellenbesetzung, die sich im Nachhinein nicht als völliger Irrtum erweist, als gute Personalentscheidung angesehen. Was zur Folge hat, dass die Schwächen des eigenen Vorgehens nur in Extremfällen offen zutage treten. Und so sind die Verantwortlichen subjektiv aufgrund fehlender Evaluation der Überzeugung, alles richtig gemacht zu haben.

STANDARD: Was sind zusammenfassend die entscheidenden Punkte, die für die Verabschiedung des Bauchgefühls bei der Personalauswahl sprechen?

Kanning: Bauchentscheidungen führen in der Personalauswahl dazu, dass sich die Entscheidungsträger wohlfühlen. Das Ziel professioneller Personalarbeit ist jedoch nicht ein möglichst zufriedener Entscheidungsträger, sondern eine möglichst gute Auswahlentscheidung. Seit Jahrzehnten zeigt die Forschung, dass Auswahlentscheidungen zu deutlich besseren Ergebnissen führen, wenn man sich nicht von seinem Bauch, sondern von diagnostischer Fachkompetenz leiten lässt und die Personalauswahl mit diagnostischer Professionalität durchführt. Die Entscheidungen, die hier getroffen werden, sind weitreichende Entscheidungen: Für alle Beteiligten – für die Unternehmen wie für die Bewerberinnen und Bewerber – sind sie viel zu wichtig, um sie dem subjektiven Empfinden zu überlassen. (Hartmut Volk, 7.3.2017)