"Oida! Was macht die da mit Sam?": Doris Knecht hat "Alles über Beziehungen" aufgeschrieben.

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Doris Knecht, "Alles über Beziehungen".

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Viktor radelte aus Überzeugung. Nicht nur, weil er nicht Auto fahren konnte, das Autofahren nie gelernt und nie einen Führerschein gemacht hatte. Er gab seinem abwesenden Vater die Schuld daran, obwohl seine beiden Schwestern mit achtzehn ihre Führerscheinprüfung absolviert hatten und Viktor periodisch ob seiner Schuldzuweisung an einen, der sich nicht wehren konnte, auslachten: Faule Ausrede, Viktor, es war dir doch damals einfach zu zeitaufwendig und zu spießig. Trotzdem: Er fuhr gerne Rad, das Radfahren tat ihm in vielerlei Hinsicht gut, auch wenn er seit diesem Vormittag ein bisschen enttäuscht war: Er hatte sich insgesamt mehr vom Radfahren erwartet, mehr positive gesundheitliche Effekte, schließlich fuhr er praktisch täglich und beinahe alle Strecken. Na gut, sie waren meist nicht sehr lang. Und seit er das Festival leitete und Anspruch auf vernünftige Taxispesen hatte, radelte er vielleicht ein bisschen weniger, musste er zugeben. Er zog es bei schlechtem Wetter und bei Kälte nun immer öfter vor, gemütlich im Inneren eines Fonds zu sitzen. Aber wenn es schön war und warm, nahm er das Rad, ließ sich den Wind um die Nase wehen, und es tat ihm gut.

Solche Frauen

Sein Kreislauf kam in die Gänge und auch sein Geist, plus, er konnte sich schon in der Früh, noch bevor er auf seine Mitarbeiter traf und den mit Menschen und ihren Fehlern stets fix verknüpften Ärger, abreagieren und ausbrüllen, weil sich verlässlich ein Autofahrer fand, der einen derart verantwortungslosen und lebensgefährlichen Scheiß zusammenfuhr, dass Viktor ihm lautstark die Meinung sagen konnte. Musste.

Erst tags zuvor wäre er in der Früh ums Haar getürt worden, von einer fetten Frau mit knallrot gefärbten Haaren, die sich, nachdem Viktor gerade noch ausweichen konnte, nicht einmal entschuldigte, sondern die dicken Arme ausbreitete und Viktor mit einem Was-ist-Blick ansah, als sei es seine Schuld gewesen. Viktor hatte abgebremst, das Rad herumgerissen und der Frau, die sich gerade mühevoll aus einem für ihre Statur entschieden zu kleinen Kleinwagen schob, engagiert die Meinung gegeigt, bist du wahnsinnig geworden, du dumme Kuh? Kannst du nicht aufpassen? Die dumme Kuh ignorierte ihn darauf, was Viktor noch zorniger machte. Sie trug ein streng kariertes Kleid, zu eng natürlich.

Solche Frauen trugen immer zu enge Kleider. Bist du taub, du dumme Nuss, bist du taub? Er hatte sich gerade noch so weit unter Kontrolle, dass er sie nicht fatshamte, weil, das ging nun nicht, so weit hatte er seine politische Korrektheit gerade noch beieinander. Bist du taub? Dann solltest du lieber den Führerschein abgeben, oder hast du überhaupt einen Führerschein, du gscherte Ziege? Viktor gelang es kaum, sich zu beruhigen, er stieg auf das Rad und fuhr schnaubend weiter, er tat sich schwer, seinen Ärger in den Griff zu bekommen, und raste wie ein Wahnsinniger Richtung Seifenfabrik, wobei er einem Autofahrer die Vorfahrt raubte und einer Mutter mit Buggy am Zebrastreifen den Weg abschnitt, die riss den Buggy zurück und brüllte Viktor wütend nach: Du dummes Arschloch! Und Viktor so: Du mich auch!

Ja, spinnst du?!

Später, als ihm sein Fehlverhalten bewusst wurde, bekam er ein schlechtes Gewissen, und nun, da er eine frische Diagnose hatte, schob er das auf seinen hohen Blutdruck: Kuckstu, auch dafür konnte er praktisch nichts, sein Blutdruck war schuld, nicht er, Viktor. Er, Viktor, war ein Opfer, ein Gefangener seiner Triebe, gekidnappt von seinen gestörten Körperfunktionen, jawohl, das war er. Er dachte an die Untersuchung, während er jetzt zügig den letzten Kilometer zu seinem Büro in der Fabrik überwand, schön war das, durch die schattigen grünen Alleen hindurch. Sein Blutdruck mache ihr Sorgen, hatte die Ärztin gesagt. Sie hatte nach seiner Ernährung gefragt, nach seinem Zuckerkonsum, nach seinen Alkoholgewohnheiten (das babyblaue Formular hatte sie dabei nicht einmal in die Hand genommen), rauchte er, trieb er Sport? Na ja, nicht so regelmäßig, wie er sich das wünschen würde, hatte Viktor gesagt, der, hätte er ehrlich geantwortet, "nie" hätte sagen müssen, aber stattdessen etwas von Beruf und Familie daherschwafelte.

Sie haben Kinder?, hatte die Ärztin gefragt, ja, fünf, hatte Viktor gesagt und verschwiegen, dass nicht er, sondern drei Frauen sich hauptsächlich bis ganz um diese Kinder kümmerten. Aha, hatte die Ärztin gesagt; weiter nichts. Aber er fahre regelmäßig mit dem Rad, hatte Viktor gesagt. Radfahren, aha, sagte die Ärztin. Ja, aber, sagte Viktor, er fahre eigentlich jeden Tag mit dem Rad, so gut wie jeden Weg. Das sei ein Anfang, sagte die Ärztin, den Blick fest auf seine Werte gerichtet, reiche aber offenbar leider nicht aus. Aha? Ja, das sei offenbar nicht ...

Viktors Handy klingelte, Viktor ignorierte es. ... ausreichend. Sonst keine Ausdauersportarten? Laufen? Schwi – Das Handy hörte nicht auf zu klingeln, bis Viktor schließlich abbremste, stehen blieb, einen Fuß auf den Boden stellte und nach dem Handy fischte. Eine Radlerin zischte arschknapp an ihm vorbei und schrie ihn an, ob er komplett deppert geworden sei!, so einfach stehen zu bleiben!, ja, spinnst du?! Viktor grinste verlegen. Sorry! Sie war schon außer Hörweite.

Das glaubt doch kein Schwein

Sein Handy meldete sich und zeigte: SAM. Sein bester Freund. Vielleicht war es wichtig. Aber genau als Viktor auf die grüne Taste drückte, war Sam weg, also rief Viktor zurück. Facetime. Warum rief ihn Sam auf dem Scheiß-Facetime an? Sam ging nicht ran. Viktor legte auf und wollte das Telefon wegpacken, da, fuck jetzt, rief Sam erneut an, und als Viktor den Anruf annahm, erschien Sams feistes, bebrilltes, verzogenes Antlitz auf Viktors Touchscreen. "Hei Vicky, ich bin grad im Schwarzen Kameel, was gibt's?" Hinter Sam erkannte Viktor andere Gäste, den Kellner, oben im Eck sein eigenes, vor Anstrengung und Hitze gerötetes Antlitz. "Das wollte ich dich fragen." "Wieso?" "Du hast mich angerufen." "Ach. Nein." "Dann hat dein Hintern mich angerufen. Mit Facetime. Ich hasse Facetime." "Ich hasse Facetime so sehr, dass ich es nicht mal habe", sagte Sam.

"Offenbar hast du es sehr wohl. Alles klar bei dir?" "Ja, alles bestens. Brauch nur gerade dringend ... Und selbst?" "Spitze. Also gleich. Bin grad am Weg zu ..." "Schau, wen ich zufällig getroffen habe", sagte Sam hastig und schwenkte das Handy, worauf auf Viktors Screen nun Helens lächelndes Antlitz erschien. Was!, dachte Viktor, das ist!, und sagte: "Oh, hallo, Helen, lange nicht gesehen." "Ja", sagte Helen, "auch hallo." Ihre Wangen wirkten etwas röter als normal, ihr Mund zeigte die Helen-immanente gelangweilte Ironie. Sam hielt die Kamera wieder auf sein eigenes Gesicht, das nun ein breites, schadenfreudiges Grinsen zierte. "Tja, Mäuschen, muss weiter", sagte Viktor und grinste müde zurück, "man sieht sich. Baba, Helen!" "Salü", sagte Sam, und aus dem Hintergrund hörte Viktor noch irgendein Brummen, aber dann steckte das iPhone schon wieder in der Tasche, und Viktor schwang sich zurück auf seinen Sattel.

Oida! Was machte die da mit Sam? Viktor spürte ein kleines, ungutes Rauschen in sich. Es taugte ihm nicht, was er da gesehen hatte. Es störte ihn. Es war nicht gut. Wer traf sich zufällig im Schwarzen Kameel und saß zufällig am gleichen Tisch? Das glaubte doch kein Schwein. Ein rechts abbiegendes Auto schnitt ihm den Weg ab, und Viktor, knapp der Kollision entkommen, schlug mit der ausgestreckten Hand auf das Dach: "Haben sie dir ins Hirn geschissen, du gschissenes Oaschloch, du Volltrottel!" Und der Fahrer ignorierte Viktor nicht mal, und er hatte keinen Pflasterstein, um ihn dem Idioten hinterherzuschmeißen, aber seine Hand tat ihm weh. Er wollte jetzt unbedingt Helen anrufen, aber. Viktor atmete tief durch, es war egal, es war jetzt egal, es war überhaupt egal. Schon scheiße, aber auch egal. Er würde sie später anrufen, ja. (Doris Knecht, Album, 4.3.2017)