Nathalie von Siemens hat 9000 Briefe ihres berühmten Vorfahren, des Firmengründers Werner, gesichtet. Sie fand Parallelen zu heute: In Umbruchzeiten müssen Chancen erkannt und Nutzen daraus erzeugt werden.

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Der junge Werner Siemens war für viele Erfindungen und Entwicklungen seiner Zeit verantwortlich. Mit der Konstruktion eines Zeigertelegrafen legte er 1846/47 den Grundstein für das Unternehmen.

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Der erste Oberleitungsbus der Welt fuhr in Berlin 1882, dies war eine Sensation, die auf colorierten Postkarten festgehalten wurde.

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Ebenfalls 1882 begann die Elektrifizierung der Städte, wie etwa in Berlin am Potsdamer Platz.

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Der gesetzte geadelte Werner von Siemens, etwa 1888.

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In dem sehr öffentlichkeitsscheuen Siemens-Clan ist sie die am wenigsten öffentlichkeitsscheue Person. Die Deutsche Nathalie von Siemens steht der Siemens Stiftung vor, die auch über Teile des sehr umfangreichen Briefverkehrs von Werner von Siemens verfügt. Um 1850, liest man aus dem daraus gemachten Buch, war eine ähnliche Gründerzeit wie heute. Die technologischen Entwicklungen und Fortschritte waren immens.

STANDARD: Sie haben die Briefe Ihres Ururgroßvaters Werner von Siemens gesichtet und aufbereitet. Was hat Sie dabei am meisten erstaunt?

Nathalie Von Siemens: Das ist eine schwierige Frage, weil es so viele waren, die über einen langen Zeitraum geschrieben wurden. Man glaubt als Familienmitglied ja, dass man bereits viel weiß über jemanden, aber ich habe Werner durch seine Briefe neu kennengelernt. Am meisten haben mich dabei die Liebesbriefe berührt. Als großer Unternehmer wird er schnell zu einem entrückten Mythos, von dem man annehmen könnte, dass er eine einsame Persönlichkeit gewesen ist. Aber dem war nicht so. Die Briefe an seine Frauen – er war zweimal verheiratet – sind hinreißend. Sehr zärtlich, und dabei ziemlich modern für das 19. Jahrhundert, in dem die Geschlechterrollen fix abgesteckt waren. Zum Beispiel überlässt er seiner ersten Frau Mathilde die Entscheidung, ob sie einen gemütlichen Fabrikbesetzer oder einen "ruhelosen Avantürier" zum Ehemann wolle. Und sie schreibt sinngemäß zurück: Niemals würde ich Deine Flügel zusammenfalten und auf Deinen Lorbeeren ruhen wollen. Das ist doch wunderschön! Ich subsumiere das schon unter Beziehungsfähigkeit. Was mich außerdem sehr berührt hat, ist sein selbstironischer Humor, der bei allem Ernst auch in großen Krisen hervorblitzt.

STANDARD: Werner von Siemens' gesamte Korrespondenz macht 9000 Briefe aus, die teils von ihm sind, teils an ihn gingen. Vieles fällt unter Geschäftskorrespondenz. Hat er das Unternehmen brieflich gemanagt?

Von Siemens: Er hat in den Briefen viel über seine Gedankenwelt preisgegeben und über das, was ihn gerade beschäftigt. Dabei haben Themen rund um das Unternehmen ebenso eine wichtige Rolle gespielt wie der persönliche Austausch mit Familie und Freunden. Man muss davon ausgehen, dass er ab dem 30. Lebensjahr etwa drei bis vier Stunden täglich am Briefeschreiben und -lesen war. Und zwar von überall, egal wo er gerade war, und er war ja sehr viel auf Reisen.

STANDARD: Also ein Netzwerker?

Von Siemens: Genau! Werner war jemand, der sein Geflecht von Beziehungen auch über intensives Briefeschreiben aufrechterhält. Die Briefeschreiberei war ein sehr persönliches Instrument für ihn. Dieser kontinuierliche Austausch gehört zum Wesen seiner Person und auch seines Erfolgs. Die Menschen, mit denen er verbunden war, ermutigten ihn stets, seinen Weg weiter zu gehen, auch in Zeiten großer Rückschläge mit dem Unternehmen, die ja durchaus existenzbedrohend waren.

STANDARD: Gibt es Parallelen zu Start-ups und Unternehmensgründungen von heute?

Von Siemens: Durchaus. Das 19. Jahrhundert ist ähnlich unserem 21. Jahrhundert. Damals kam es zu einer immensen Beschleunigung und zu einem technologischen Paradigmenwechsel. Das veränderte die Arbeit radikal und brachte enorme Veränderungen in der Gesellschaft mit sich. Was wir heute beobachten können, ist ähnlich: Die Veränderung von industrieller Produktion – Stichwort Digitalisierung – führt ebenfalls zu einer Veränderung von Arbeit und damit der Gesellschaft. Werner hat die Herausforderungen seiner Zeit als Chance begriffen und mit den neuen Technologien Nutzen für die Gesellschaft geschaffen. Das ist auch einer der Gründe, warum aus einem Start-up in einem Berliner Hinterhof eines der weltweit erfolgreichsten "Stay-ups" werden konnte.

STANDARD: Welche Lehren lassen sich aus der damaligen Gründerzeit ziehen?

Von Siemens: Ich denke, von Werner kann man lernen, dass es lohnt, die Dinge anders zu machen und sie selber in die Hand zu nehmen. So hat er, für die damalige Zeit revolutionär, eine Pensions-, Witwen- und Waisenkasse sowie eine Mitarbeitergewinnbeteiligung gegründet. Das alles, lange bevor Bismarck eine Sozialgesetzgebung einführte. Er hat nicht auf die Gesetzgebung gewartet, sondern auf einen offensichtlichen Bedarf selber reagiert. Ein anderes Beispiel ist die frühe Internationalisierung. Weil er in Preußen keine Aufträge mehr erhalten hat, hat er seine Brüder William und Carl eingesetzt, um das Geschäft in England und Russland aufzubauen. Er wusste, seine Produkte können auch über die Landesgrenzen hinweg Nutzen stiften. Ohne diese frühe globale Ausrichtung hätte das Unternehmen nicht überlebt. Man muss die Dinge manchmal anders machen, damit man gewinnt.

STANDARD: Woher kam Inspiration?

Von Siemens: Neue Ideen und deren praktische Umsetzung, das war sein Lebenselixier. Werner war stets im Gespräch mit den großen Wissenschaftlern seiner Zeit und neugierig. Das galt bis zu seinem Lebensende. Noch in seinem Todesjahr 1892 beschäftigte er sich mit Lösungen, wie man die Sprechgeschwindigkeit auf Unterseekabeln verdoppeln könnte und schrieb in einem Brief an seinen Bruder Carl: "Das gute Resultat hat mich ordentlich wieder aufgefrischt. Man ist doch noch nicht ganz tot." Gleichzeitig hatte er keine Angst, Fehler zu machen und diese zuerst bei sich selbst zu suchen. Er wusste, "Lehrgeld muss man zahlen bei neuen Sachen". Heute würde man das wahrscheinlich als Fehlerkultur bezeichnen.

STANDARD: Sie sind im Vorstand der Siemens Stiftung. Fließen die Ideen des Firmengründers in die Ausrichtung der Stiftung ein?

Von Siemens: Wir sind davon überzeugt, dass für eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung Technologie und Unternehmertum eine besondere Bedeutung zukommt. Weil es z. B. für eine ordentliche Trinkwasserversorgung technische Lösungen geben muss. Innovation und finanzielle Nachhaltigkeit entstehen durch unternehmerische Modelle. Das ist durchaus im Geist von Werner. Im Bereich Bildung setzen wir den Fokus auf die Mint-Fächer: also auf Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. In einer technisierten Welt ist das Verständnis von naturwissenschaftlichen und technischen Zusammenhängen entscheidend für verantwortungsvolle Mitgestaltung. Hochwertige Bildung in diesem Bereich ist zudem Voraussetzung für individuelle Aufstiegschancen und gesellschaftlichen Wohlstand. (Johanna Ruzicka, 4.3.2017)