Sevim Dağdelen sitzt für Die Linke im deutschen Bundestag.

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STANDARD: Die Stadt Gaggenau hat den Auftritt des türkischen Justizministers Bekir Bozdağ am Donnerstag aus Sicherheitsgründen abgesagt. Der türkische Wirtschaftsminister Nihat Zeybekçi bekommt in Köln keinen Saal. Ist so eine Begründung ein sinnvoller Weg, die Wahlkampfreden der türkischen Regierungsmitglieder zu verhindern?

Dağdelen: Der Entzug der Zulassung in Gaggenau und Köln aus organisatorischen Gründen ist vom Grundsatz her zu begrüßen. Aber dann wollte Nihat Zeybekçi nach Frechen bei Köln ausweichen. Das weist darauf hin, dass wir es hier mit einem kompletten Versagen der Bundesregierung, speziell von Kanzlerin Merkel und Außenminister Gabriel, zu tun haben, die sich vor einer politischen Entscheidung drücken. Sie sind es, die den Werbefeldzug Erdoğans und seiner Minister für Diktatur und Todesstrafe in Deutschland unterbinden müssen. Nur so kann auch verhindert werden, dass die türkischen Minister nun möglicherweise an einem anderen Ort auftreten. Hier muss grundsätzlich die Bundesregierung entscheiden, damit mögliche noch folgende Regierungsvertreter einschließlich Erdoğan sich gar nicht erst auf den Weg nach Deutschland machen, weil sie das politische Stillhalten der Bundesregierung als Einladung für Propaganda in eigener Sache in Deutschland verstehen.

STANDARD: Politik und Behörden schieben sich gegenseitig den schwarzen Peter zu. Wessen Aufgabe ist es, derartige Auftritte zu genehmigen oder zu verbieten? Bund, Länder oder Gemeinden?

Dağdelen: Die Bundesregierung entscheidet, ob und unter welchen Bedingungen sich ausländische Regierungsvertreter politisch äußern dürfen. Das geht aus einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster hervor, das im Sommer 2016 ein polizeiliches Verbot bestätigte, Erdoğan via Leinwand auf eine Kundgebung in Köln zuzuschalten. Das Bundesverfassungsgericht hat das Urteil bekräftigt. Will Merkel die Propaganda für Diktatur und Todesstrafe durch türkische Regierungsvertreter in Deutschland verhindern, muss sie ihnen die Einreise zu diesem Zweck verbieten. Fraglich ist, ob der in der Vergangenheit von türkischer Seite mitunter vorgebrachte Hinweis greifen würde, es handele sich um Privatveranstaltungen. Das OVG Münster urteilte dazu eindeutig, dass auch in einem solchen Fall der Bund verantwortlich sei.

STANDARD: Welche Grundlagen der deutschen Gesetzgebung sprechen gegen derartige Wahlkampfauftritte, wie könnte man sie rechtlich begründet untersagen?

Dağdelen: Es gibt kein Auftrittsrecht für ausländische Staatsoberhäupter oder Regierungsmitglieder in Deutschland. Sie haben als Hoheitsträger keinerlei Anspruch auf die Grundrechte, schließlich sind Grundrechte vor allem Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat. Münster ist hier wegweisend. Überdies gibt es eine weitere rechtliche Handhabe durch das Aufenthaltsgesetz. Paragraf 47 regelt das Verbot und die Beschränkung der politischen Betätigung von Ausländern, wenn diese der freiheitlich demokratischen Grundordnung widerspricht. Es ist also rechtlich möglich und politisch geboten, gegen diese Auftritte durch die Bundesregierung etwas in die Wege zu leiten, statt Stadtverwaltungen in Gaggenau oder Köln mit administrativen Verfügungen wie Parkplatznöten ins Feuer zu schicken.

STANDARD: Welche Reaktion erwarten Sie sich von der Bundesregierung, wenn nun auch Erdoğan nach Deutschland kommt?

Dağdelen: Wir erleben einen äußerst kritischen Moment. Ich fürchte, die Bundesregierung wird sich wieder wegducken. Das wäre ein weiteres Signal an Erdoğan, dass er mit seiner Sprache der Erpressung durchkommt. Weitere Provokationen gegen Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland durch Erdoğans Helfershelfer wären die Folge. Erdoğan meint jedenfalls, die Bundesregierung bisher erfolgreich erpressen zu können.

STANDARD: Ist die Regierung Merkel von der Türkei abhängig?

Dağdelen: Die Bundesregierung ist aufgrund ihrer falschen Politik auf Erdoğan angewiesen. Durch den Flüchtlingsdeal hat sich die Kanzlerin erpressbar gemacht. Geopolitisch ist die Türkei als eine Art unsinkbarer Flugzeugträger wichtig für Einsätze der Bundeswehr im Nahen Osten. Und schließlich will Merkel die Türkei als Profitzentrum für deutsche Konzerne erhalten. So hat der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall gerade erst mit der türkischen Firma BMC ein Gemeinschaftsunternehmen mit Hauptsitz in der Türkei gegründet. Dafür ist die Bundesregierung bereit, Demokratie und Rechtsstaat zu opfern, nicht nur in der Türkei, sondern auch hier in Deutschland, indem sie den Werbefeldzug für die Diktatur durch die islamistische AKP und ihr aggressives Netzwerk hier duldet.

STANDARD: Premier Binali Yıldırıms Auftritt vor zwei Wochen in Oberhausen lief als "Privatbesuch". Wie definiert sich "privat", und ist ein privater Auftritt eines aktiven Regierungsmitglieds überhaupt denkbar?

Dağdelen: Das ist natürlich absurd. Und das weiß die Bundesregierung auch. Yıldırım wird ja nicht in seiner offiziellen Position als türkischer Ministerpräsident mit Diplomatenpass einschließlich Sicherungsmaßnahmen über das Bundeskriminalamt und andere Polizeibehörden zur Münchener Sicherheitskonferenz reisen und sich dort mit Bundeskanzlerin Angela Merkel treffen und dann als Privatperson nach Oberhausen reisen, ohne die entsprechenden Privilegien wie das der Unverletzlichkeit. Wäre dem so, hätten gegen ihn sogar hoheitliche Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden dürfen, wenn dieser Besuch nicht in amtlicher Eigenschaft stattfand.

STANDARD: Warum haben die deutschen Behörden die Gelegenheit nicht genutzt, Yıldırım bei der Gelegenheit bezüglich der Ditib-Spionageaffäre zu befragen?

Dağdelen: Das bleibt das Geheimnis der Ermittlungsbehörden beziehungsweise deren Dienstherren. Offensichtlich will man keine Aufklärung. Die Ditib als deutsche Außenstelle der türkischen Religionsbehörde Diyanet und damit politischer Arm der türkischen Regierung soll offenbar geschont werden. Es beginnt schon mit der Frage, warum es so lange dauerte, bis sich die Justiz überhaupt rührte.

STANDARD: Wurden die Ermittlungen gegen die Imame der Ditib bewusst verzögert?

Dağdelen: Dass Imame der Ditib und Religionsattachés in mehreren deutschen Städten spioniert haben, wurde bereits Anfang Dezember 2016 berichtet. Trotzdem wurde durch den Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof erst am 16. Januar 2017 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit gegen 16 namentlich bekannte Beschuldigte eingeleitet. Bei den erst Mitte Februar durchgeführten Wohnungsdurchsuchungen wurden Beweismittel wie Kommunikationsmittel, Datenträger und schriftliche Unterlagen sichergestellt. Festnahmen hat es keine gegeben. Sowohl wichtige Beweismittel als auch Beschuldigte und Tatverdächtige waren da schon verschwunden. Da drängt sich der Eindruck der Verschleppung selbstverständlich auf. (Michael Vosatka, 4.3.2017)