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Rote Roben, jahrhundertealte Benimmregeln: Die Damen und Herren Abgeordneten bezeichnen einander als "Mylords", man betont bei jeder Wortmeldung die "Ehre", die es sei, dem Vorredner zu folgen – auch wenn der den größten Unsinn verzapft hat.


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Der Einzug der Queen mit Pomp und Schleppe gehört ebenso zum Oberhaus wie die Selbstregulierung der Debatten.

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Die Yeoman Warders entwickelten sich aus der Leibwache der englischen Könige im Tower zu Zeiten, als die Könige dort präsent waren – sie sind bis heute Bestandteil vieler Zeremonien.

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The Houses of Parliament, Wiege und Hort der britischen Demokratie. Ausgerechnet jene EU-Feinde, die gerne die parlamentarische Souveränität Großbritanniens beschwören, würden die widerspenstige zweite Kammer am liebsten abschaffen.

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Die "Rowdys" im Unterhaus beschlossen am 8. Februar, den Antrag auf den Austritt aus der EU zu stellen, was vielen Lords bis dato nicht schmeckt.

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Premierministerin Theresa May bei der allwöchentlichen Fragestunde.

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Fangen wir beim Gebet an. Das liegt ja nahe in einer Parlamentskammer, der zwei Erzbischöfe und 24 Diözesanbischöfe, darunter neuerdings auch zwei Frauen, angehören. Man nennt sie geschlechterübergreifend die geistlichen Lords (Lords Spiritual). Weder Juden noch Muslime, weder Katholiken noch Sikhs gehören von Amts wegen zum britischen Oberhaus.

Dafür haben sich die Anglikaner eine freiwillige Selbstbeschränkung auferlegt: Zu tagespolitischen Fragen nehmen sie normalerweise keine Stellung. Dass vergangenen Mittwoch der Erzbischof von York, John Sentamu, in der Brexit-Debatte zugunsten der Regierung das Wort ergriff, gehörte also zu den denkwürdigen Momenten.

Normalerweise werden solch profane Gesetze – nach dem obligatorischen Eingangsgebet, versteht sich – von den weltlichen Lords (Lords Temporal) erörtert. Der Qualität der Diskussion tut dies keinen Abbruch, sitzen auf den Lederbänken der zweiten Parlamentskammer doch Politikprofessoren und frühere Außenminister, EU-Kommissarinnen und Spitzenbeamte in Hülle und Fülle. "Mylords", werden sie sagen – und dabei die Damen einbeziehen.

Dann folgt eine höfliche Bemerkung darüber, welche "Ehre" es sei, der Vorrednerin oder dem Vorredner folgen zu dürfen. Dies gilt unabhängig davon, welchen Unsinn sich das Haus zuvor anhören musste. Vom "anderen Ort" ("the other place") werden sie sprechen und damit das Unterhaus meinen, das ihnen das Brexit-Austrittsgesetz überwiesen hat.

Frei sprechen

Ein Rednerpult gibt es nicht, Regierung und Opposition sitzen sich auf Bänken aus blutrotem Leder gegenüber, wie im Theater treppenartig ansteigend. Gesprochen wird stehend vom Platz aus. Und die meisten halten sich noch immer an die einst heilige Konvention, so weit wie möglich frei zu sprechen.

Die berühmten rot-weißen Roben kommen allerdings nur zum Einsatz, wenn ein neues Mitglied eingeführt wird; oder am Tag der Queen's Speech, wenn die Monarchin einmal im Jahr durch den eigens für sie reservierten Eingang ins Oberhaus kommt, auf ihrem Thron Platz nimmt und das Programm der Regierung für die kommende Session verliest.

Nicht nur trägt Elizabeth II dann eine mehrere Kilogramm schwere Krone über dem Ornat; auch die Lords und Ladies werfen sich mächtig in Schale, farbenfrohe Kostüme von Besucherinnen auf den Zuschauerbänken vervollständigen das Spektakel. "Wir Briten haben nun einmal Spaß an der Verkleidung", kommentiert die Labour-Baronin Oona King. Im Alltag hingegen wird normale Kleidung getragen.

Ziemlich außergewöhnlich ist die Art und Weise, wie man im Oberhaus zu Wort kommt: Die Kammer reguliert sich selbst. Am Ende einer Wortmeldung erheben sich die ehrwürdigen Ladies und Lords und rufen: "Mylords!" Wer am schnellsten oder lautesten ist, hat gewonnen.

Keiner ruft zur Ordnung

Der Lord Speaker präsidiert nur, bestimmt aber nicht die Rednerliste und spricht auch keine Ordnungsrufe aus. Nach zwei Frauen übt derzeit Norman Fowler den Posten aus; der 79-Jährige war unter Premierminister Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren lange Sozialminister, kennt sich also aus mit den Bedürfnissen älterer Herrschaften.

Von denen gibt es viele unter den 805 Mitgliedern, handelt es sich doch beim Oberhaus um "das beste Altenbegegnungszentrum Londons", wie der liberale Lord Paul Tyler (75) in einer neuen BBC-Dokumentation boshaft mitteilt.

Tatsächlich stellt die Überalterung ein gewisses Problem dar. Das ist schwer zu vermeiden, gehören der Kammer doch außer 90 Erbadeligen vor allem frühere Politiker sowie anerkannte Experten aus allen möglichen Lebensbereichen an – von Nobelpreisträgern bis hin zu früheren Spitzensportlern. Die meisten befinden sich also bereits im Spätsommer ihres Lebens, ehe sie zu Peers auf Lebenszeit ernannt werden.

Durchschnittsalter 69 Jahre

Kürzlich hat das Oberhaus ein Komitee zu seiner eigenen Verkleinerung einberufen. Zuvor sollten mehrere Reformen den älteren Damen und Herren den Ruhestand schmackhaft machen, doch seit 2010 mochten nur 64 Mitglieder diesen Weg gehen. Die Sterberate ist auch nicht sonderlich hoch: 2016 segneten lediglich 13 Herren das Zeitliche, dafür in diesem Jahr bereits zwei Damen. Noch immer beträgt das Durchschnittsalter 69 Jahre. Das ist wohl der fürsorglichen Pflege des Personals zu verdanken.

Der älteste Oberhäusler steht im 98. Lebensjahr und gehört dem Hohen Haus bereits 71 Jahre lang an. Es handelt sich um den früheren Verteidigungs- und Außenminister Peter Carrington, den sechsten Baron dieses Namens. Carrington hatte seinen Dienst als Parlamentarier bereits 13 Jahre lang versehen, ehe 1958 die erste Lady ins House of Lords berufen wurde.

Mittlerweile stellen Frauen fast ein Viertel (201) der Abgeordneten, darunter auch das Nesthäkchen, die mit 38 Jahren geradezu sagenhaft junge Gabrielle Bertin. Sie schuldet ihre Mitgliedschaft im Altenbegegnungszentrum dem am EU-Referendum gescheiterten Premier David Cameron, als dessen Pressesprecherin sie fungierte.

Verzögern, nicht verhindern

Ob nun der Pensionistenclub am Brexit scheitert? Schon haben die nationalistischen "die-hards" der konservativen Unterhaus-Fraktion gedroht, man werde die zweite Kammer kurzerhand abschaffen, sollten sich die Lords dem Austritt widersetzen. In Wahrheit kann das Oberhaus ein im Unterhaus beschlossenes Gesetz ohnehin nicht zu Fall bringen, sondern höchstens um ein Jahr verzögern.

Die Oppositionsfraktionen haben schon angekündigt, sie würden das vergangenen Mittwoch um das Bleiberecht der EU-Bürger ergänzte Gesetz höchstens einmal ans Unterhaus zurückschicken – dann aber dessen Votum akzeptieren. Damit bliebe Premierministerin Theresa Mays Zeitplan für die Einleitung des EU-Austritts bis spätestens Ende März intakt.

Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass ausgerechnet jene EU-Feinde, die gerne die parlamentarische Souveränität im Mund führen, jetzt von der Abschaffung der unliebsamen Kammer sprechen. Aber das sieht den Rowdys im Unterhaus ähnlich. Die gehen ja auch morgens nur zum Gebet, um ihre Namenskarte an ihrem Lieblingsplatz auf den grünen Bänken zu befestigen. Für die 650 Abgeordneten gibt es nämlich nur 427 Sitzplätze, weshalb bei wichtigen Momenten, etwa der allwöchentlichen Fragestunde an die Premierministerin, viele am Saalrand stehen müssen.

"Mutter aller Parlamente"

Außerdem brauchen die Volksvertreter einen robusten Schiedsrichter, Speaker genannt. Jeden Tag vor Sitzungsbeginn schreitet er feierlich durch die zentrale Halle des Palastes von Westminster, einen Spitzenbeamten sowie seine persönliche Prälatin im Schlepptau. Links geht es zum Oberhaus, weshalb John Bercow (54) jovial grüßend nach rechts abbiegt.

"Die Hüte ab, ihr Fremden!", bellt der begleitende Polizeibeamte – ein kurioser Befehl schon deshalb, weil in der zentralen Halle des Parlaments eigentlich niemand mehr Hut trägt. Aber Tradition muss sein in der "Mutter aller Parlamente", wie stolze Engländer gern zu sagen pflegen.

Wenigstens trägt Bercow keine Strumpfhosen und Spangenschuhe aus dem 18. Jahrhundert mehr wie seine Vorgänger, sondern nur noch eine Art Richtertalar.

Rasch an der Marmorstatue Winston Churchills vorbei, deren Füße glattgerieben sind von den schweißnassen Händen angstgeplagter Parlamentarier auf dem Weg in den Saal. Dort nimmt der Speaker auf einem Thron Platz, ruft "Order, order!" – und schon kann die Debatte beginnen.

Vor den beiden ersten Reihen sind rote Linien aufgemalt, der Abstand dazwischen bemisst sich als "zwei Degenlängen" – Erinnerung an die Zeit, als der öffentliche Disput gerade erst die Waffengewalt als Mittel der Auseinandersetzung abgelöst hatte. Nur die jeweils zuständige Ministerin und deren "Schatten" der offiziellen Opposition haben so etwas wie eine Ablage für ihr Redemanuskript: einen Holzkasten auf dem Tisch für die Stenografen.

Alle anderen sprechen stehend von ihren Plätzen aus. Das gelingt oft aber erst nach ausführlichen Leibesübungen: Wer zu Wort kommen will, springt schnell auf und hofft darauf, vom Speaker aufgerufen zu werden.

In Reihen statt im Halbkreis

Nachdem deutsche Fliegerbomben den alten Plenarsaal im Mai 1941 gänzlich zerstört hatten, diskutierten die Abgeordneten über seinen Neubau. Ob man wie anderswo auf der Welt die Bänke im Halbkreis oder in Hufeisenform aufstellen solle? Die revolutionäre Neuerung scheiterte an Churchill und dessen Argument, die Kammer veranschauliche das britische Zwei-Parteien-System. Angesichts der neuen Vielfalt in der britischen Politik wirkt die auf zwei Parteien ausgelegte Kammer mittlerweile aber antiquiert.

Dass Abgeordnete stets den Speaker ansprechen und von ihrem Gegenüber in der dritten Person sprechen, gehört ebenso dazu wie die Tatsache, dass Applaus verpönt ist. Zustimmung wird mit lautem "Hört, hört! ("Hear, hear!") ausgedrückt, was wie eine Herde blökender Schafe klingt. Und es herrscht ein robuster Ton, exquisite Beleidigungen inbegriffen. "Der sehr ehrenwerte Gentleman würde die Wahrheit selbst dann nicht erkennen, wenn sie quer über seine Augäpfel gesprüht würde", ätzte einst Labour-Mann Dennis Skinner, auch als "Bestie von Bolsover" bekannt, über einen Tory-Minister,

Müde und emotional

Zur Nachtstunde merkt man dem einen oder der anderen den längeren Aufenthalt in den hochsubventionierten Parlamentsbars durchaus an. Ehrenwerte Mitglieder als betrunken zu bezeichnen, das ist verpönt – aber der Euphemismus dafür lässt keine Zweifel offen: "Müde und emotional" muss sich nennen lassen, wer einen über den Durst getrunken hat.

Müde und emotional, auch ganz ohne Alkohol, werden die Parlamentarier am Ende ihrer Brexit-Debatten auf jeden Fall sein. Am Ende, soviel steht fest, wird das Austrittsgesetz verabschiedet werden. Dann verliest ein Beamter der Krone den Gesetzestitel, und ein Parlamentsdiener antwortet in normannischem Französisch: "La Reyne le veult" – die Königin will es. Der Satz ist ein Überbleibsel aus jenen Zeiten, als der britische Adel die Sprache der Eroberer von 1066 benutzte. 951 Jahre danach läutet also eine altfranzösische Phrase den Abschied der Insel vom Kontinent ein. (Sebastian Borger, 4.3.2017)