
Jason Williams und Andrew Fearn dokumentieren als Sleaford Mods mit galligen, wütenden Songs den sozialen Niedergang Großbritanniens.
Wien – Wir kennen das von uns selbst: Alles geht im Wahrnehmungsbereich älterer Menschen den Bach hinunter. Gefühlsmäßig sind wir spätestens ab der zweiten Ölkrise 1979 schon immer vor die Hunde gegangen. Jeder kann es jeden einzelnen Tag erleben. Besser wird das nicht mehr werden. Lässt man die Weltlage jetzt einmal beiseite, so war es früher nicht nur um die Gesundheitsfürsorge besser bestellt, sondern auch um die Krankenversorgung.
Großbritannien war diesbezüglich zumindest rein vom Feeling absterbender Plattenbauten an der städtischen Peripherie her und ersten Interrail-Exerzitien immer schon ganz vorn am zivilisatorischen Niedergang von der Ersten hinunter zur Dritten Welt dran. Die Lücke zwischen niedergegangener Grundstoff- und Schwerindustrie und Start-up- und Cupcake-Business füllt mittlerweile Jahrzehnte. Das britische Jobwunder unter Tony Blair bedeutete ja letztendlich auch nur, dass man nach Feierabend einen Zweit- und Drittjob suchen musste, um neben der Miete auch noch das Essen bezahlen zu können.
Zynisch gesagt, wird der anstehende Brexit natürlich, wie so oft in Krisenzeiten, für einen interessanten Schub im Kulturbereich sorgen. Geht es der Wirtschaft schlecht, geht es uns allen gut. Die Tagesfreizeit lässt sich zwischen Depression und Verzweiflung und tödlicher Langeweile mit toller dringlicher Kunst füllen. In der langen Tradition bezüglich der sozialen und ökonomischen Gesamtsituation Gift und Galle spuckender Musik aus dem Geiste des Punk ist seit einigen Jahren auch das Schaffen des Duos Sleaford Mods zu betrachten.
Texter Jason Williamson und der für die Musik zuständige Laptopper Andrew Fearn kommen aus Nottingham. Zwar mögen die im breiten East-Midlands-Dialekt herausgebellten und -gegeiferten Lyrics über eine Welt, die nicht eingerichtet ist, im Detail unverständlich sein, insgesamt aber spiegeln die unversöhnlichen, nah am Rap und an der Ausschank eines Vorstadtpubs gebauten Betrachtungen eines Mannes, der an seine Themen herangeht wie ein Kampfhund mit Kiefersperre doch eine Haltung wider.
Mit dem Rücken zur Wand wird die Wut zum Mut. Auch das neue, für Kenner der britischen Armenküche bedrohlich betitelte Album English Tapas (Nüsse, Chips, Eier, Käse, Fett ...) bietet harte Kost. Nach Großtaten wie Austerity Dogs oder Divide And Exit ist der Stil exakt der gleiche geblieben. Sturheit als Alleinstellungsmerkmal.
Heuschreckenfressen
Zu einer leicht verzerrten wie verhatschten Bassgitarre, die Andrew Fearn live der Bequemlichkeit halber vom Computer spielen lässt, damit er in Ruhe seine Öfen rauchen und Bier trinken kann (Arbeitsverweigerung als Flucht nach vorn!), rumpelt und tuckert ein streng einfallsloses frühelektronisches Rhythmusprogramm. Jason Williams schreit sich darüber etwa im Song B.H.S. seinen Frust über den Niedergang und die Massenentlassung von 11.000 Mitarbeitern der gleichnamigen britischen Möbelhauskette aus dem Leib. Heuschreckenfressen bedeutet für das deklassierte Proletariat: Proteine!
English Tapas beinhaltet keinerlei Neuigkeiten, alles klingt wie immer, Jason Williams ist der geifernde Prophet mit Lufthoheit über den Stammtisch. Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist? Keine Chance. Ohne Arbeit kein Grund für Feierabend. Im Geiste des großen zornigen Vorbilds Mark E. Smith von The Fall, der dieses Wochenende übrigens 60 wird, hanteln sich die Sleaford Mods songtechnisch von einer Katastrophe in die nächste. Der soziale Brennpunkt wird zum Sodbrand wird zum lyrischen Reflux. Eine härtere sozialpolitische Watsche wird man aus Brexitland heuer nicht bekommen. (Christian Schachinger, 4.3.2017)